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Nicht mit westlichen Maßstäben zu messen

Reinhard Krumm bietet eine Anleitung zum Verständnis Russlands und der russischen Gesellschaft

Wer Russland verstehen will, muss dieses Buch lesen, lockt der Verlag. Und hat damit nicht Unrecht. Reinhard Krumm, Jahrgang 1962, Leiter das Regionalbüros für Zusammenarbeit und Frieden in Europa der Friedrich-Ebert-Stiftung und Lehrbeauftragter für osteuropäische Geschichte an der Universität Regensburg, hatte für die der SPD nahestehende Stiftung lange in Russland und Zentralasien gelebt und gearbeitet, als Korrespondent für deutschsprachige Medien berichtet. Er weiß, worüber er schreibt. Er kennt sich aus - in der russisch-sowjetischen Geschichte wie auch mit der russischen Seele und dem uralten russischen Traum, dem Traum von Freiheit. Der wie so vieles in Russland widersprüchlich sei: »Auf der einen Seite erwartet die Gesellschaft Unterstützung vom Staat im sozialen Bereich. Auf der anderen Seite fordern die Menschen, dass sie selbst über ihr Schicksal bestimmen können.«

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Reinhard Krumm: Russlands Traum. Anleitung zum Verständnis einer anderen Gesellschaft. J. H.W. Dietz, 133 S., br., 16,90 €.

Krumm ist es wichtig, das oberflächliche Bild im Westen über Russland und seine Menschen zurechtzurücken, Verständnis zu wecken, Vorurteile abzubauen. Das größte Land der Erde lasse sich nicht mit westlichen Kategorien und Kriterien beurteilen. Die Mehrheit der Bevölkerung ist heute freier als je zuvor, so Krumm, auch wenn es noch immer Ungerechtigkeiten gebe. Der Anschein, dass sich die russländische Gesellschaft widerstandslos vom Staat beherrschen lasse war und ist falsch, betont der Autor. Auch wenn es immer Gewalt und Unfreiheit gegeben habe.

Er beginnt seinen historischen Essay mit Peter dem Großen, der für Russland das Fenster zum Westen aufgestoßen hat, und endet mit Putins »souveräner Demokratie«, die der Präsident selbst wie folgt erklärt: »Ein starker Staat ist für einen Russländer keine Anomalie, nicht etwas, gegen das man kämpfen muss, sondern ganz im Gegenteil, die Quelle und der Garant für Ordnung, der Initiator und die wichtigste treibende Kraft eines jeden Wandels.« Nun, manche sehen es anders, wie Demonstranten im vergangenen Sommer erneut bekundeten.

Doch auch westliche Länder erleben derzeit machtvolle Protestkundgebungen. Und so fragt Krumm: »Machen wir es uns nicht zu einfach mit dem Blick auf das heutige Russland, indem wir seine Geschichte als eine kuriose und verunglückte Sonderentwicklung sehen, die sich linear autokratisch-diktatorisch durch die Zaren-, Generalsekretärs- und Präsidentenzeit zieht?« Er zitiert die Bremer Historikerin Susanne Schattenberg: »Es spricht viel dafür, patrimonische Herrschaft nicht als grausame Unterdrückung der Bevölkerung, sondern als ein auf gegenseitigen Rechten und Pflichten beruhendes System zu verstehen, das anstatt auf festen Strukturen und Institutionen auf stets in Bewegung befindlichen Beziehungsgeflechten aufbaut.«

Krumm beleuchtet 300 Jahre russischer Geschichte. Maßstab bei deren Beurteilung, so auch Krumm, sollte nicht unbedingt der Westen sein, also Westeuropa, Zentraleuropa und die USA. Im ersten Kapitel über das Zarenreich fehlt natürlich nicht der Dekabristenaufstand von 1825, eine Erhebung »adliger Revolutionäre« (Lenin), gegen den neuen Zaren Nikolaus I., gegen gegen Leibeigenschaft, Polizeiwillkür und Zensur. Krumm will hier sowjetische Historiografie korrigieren: »Dieser Aufstand war eher ein Staatsstreich denn eine von der Mehrheit gewollte Revolution.« (Dass Letzteres in der Geschichtsschreibung der UdSSR behauptet wurde, ist mir allerdings neu.)

Krumm würdigt die Reformen von Alexander II., vor allem die Abschaffung der Leibeigenschaft 1861, diskutiert den Streit zwischen Westlern und Slawophilen in der Intelligenzija, informiert über die nachholende Industrialisierung des Landes und erörtert die Rolle der Kirche als Stütze des Systems (heute wieder). Obwohl vor allem die ländliche Bevölkerung strenggläubig war, erfolgte eine moderne Übersetzung der Bibel aus dem Altslawischen erst 1862, kurioserweise nach der Veröffentlichung des »Kapitals« von Karl Marx, wie der Autor anmerkt.

Interessant auch seine Beobachtung, noch für die Zarenzeit: »Frauen besaßen - verglichen mit anderen europäischen Staaten - ungewöhnlich große Freiräume, um sich wirtschaftlich zu betätigen. Das hatte seinen Grund in einer überraschend liberalen Gesetzgebung. So leiteten Frauen kleine Firmen sowie große Unternehmen. Ein emanzipatorischer Ansatz lag dem zumeist nicht zugrunde, gleichwohl erwarben sich diese Frauen durch ihren Erfolg Respekt in einer von Männern dominierten Geschäftswelt. Dies nutzten nicht wenige, um sich gesellschaftspolitisch zu engagieren.«

Das folgende Kapitel, vielleicht etwas übertrieben überschrieben mit »Die Räterepublik«, berichtet über die Machtübernahme durch die Bolschewiki in Petrograd kurz vor dem Ende des Ersten Weltkrieges, was keineswegs mit der Gewissheit verbunden war, »dass sie unumkehrbar sei«:

»Gegen die Revolution formierte sich heftigster Widerstand in einem unübersichtlichen Kampffeld. Russen und andere Nationen probten den Aufstand, es kam zu Bürgerkrieg der ›Roten‹, Bolschewiki, gegen die ›Weißen‹, angeführt von Offizieren der ehemaligen Zarenarmee, die den Status quo wiederherstellen oder zumindest eine kommunistische Regierung verhindern wollten. Andere gruppen fochten sowohl gegen die Roten als auch gegen die Weißen. Und es gab die lokalen Interessen des Dorfes, der Region.« Hinzu kam die Intervention ausländischer Staaten: Deutschland, Frankreich, Großbritannien und die USA.

»Doch die Regierung begann zu liefern und erließ Verordnungen am Fließband, die zehn Jahre zuvor noch unvorstellbar gewesen wären: Aufhebung der Eigentumsrechte der Gutsbesitzer, Aufhebung der Stände, Nationalisierung der Banken, Gleichberechtigung der Frau, Trennung von Staat und Kirche, Acht-Stunden-Arbeitstag, Verbot der Kinderarbeit.«

Viele Russen verließen das Land, andere schätzten - trotz Einschränkungen - »die einmaligen Möglichkeiten, beim Aufbau eines neuen Gesellschaftssystems mitzumachen«. Kritisch analysiert Krumm Stalins Herrschaft, erinnert an den selbstmörderischen »Großen Terror«, der auch die Elite und viele Kommunisten anderer Nationen traf, die in der Sowjetunion Exil fanden respektive diese als auch ihr »Vaterland« ansahen.

Mit großer Sachkenntnis und Einfühlungsvermögen analysiert Krumm die postsowjetische Zeit, die offiziell am Abend des 25. Dezember 1991 endete, als der damalige Generalsekretär der KPdSU, Michail Sergejewitsch Gorbatschow, in einer Fernsehansprache seinen Rücktritt erklärte und einige Stunden später die rote Fahne über dem Kreml ein- und die weiß-blau-rote russische Trikolore hochzogen wurde. Über Jahrzehnte war Russland dann mit sich selbst beschäftigt, so Krumm, »kam im Vergleich zu den ostmitteleuropäischen Staaten auf dem Pfad der Transformation nur mühselig voran«. Bis es unter Putin wieder die Weltbühne betrat.

Dieses Buch, bespickt mit Zitaten großer russischer Dichter und Denker, ist ein Lektüregenuss.

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