Vom Guten und Eigenen

Die Philosophin Ina Schmidt über die Besonderheiten eines »geistigen Bands« und die Freundschaft zu sich selbst

  • Ulrike Wagener
  • Lesedauer: 8 Min.

In Filmen und Romanen ist Liebe oft präsenter als Freundschaft. Ist das in der Philosophie auch so?

Das hat sich tatsächlich im Lauf der Zeit verändert. In den ersten theoretischen Betrachtungen bei Platon oder später in der aristotelischen Ethik galt Freundschaft (Philia) als eine Form der Liebe neben anderen. Die zwei anderen zentralen Formen waren Liebe zu einem göttlichen Wesen (Agape) und die erotische Liebe (Eros), die aber auch die Liebe zum Schönen einschließt. In unserem Sprachgebrauch hat vorrangig die Romantik dafür gesorgt, dass es primär um die romantische Liebe gehen soll, so dass wir die anderen Liebesformen ein wenig aus dem Blick verloren haben. Seitdem kennen wir auch die Hierarchie, welche die Freundschaft der Liebe unterordnet.

Ina Schmidt

Die Philosophin und Kulturwissenschaftlerin Ina Schmidt (Jahrgang 1973) lebt mit ihrer Familie in Reinbek bei Hamburg. Sie ist Gründerin der philosophischen Plattform »denkraeume«, Referentin für Bildungsprojekte und Lehrbeauftragte am Institut für Philosophie der Universität Rostock.

Schmidt hat diverse philosophische Sachbücher veröffentlicht, unter anderem darüber, was Menschen zu Freunden macht. Zuletzt erschien von ihr »Über die Vergänglichkeit. Eine Philosophie des Abschieds«, Edition Körber, 280 S., geb., 20 €.

Vor der Romantik war das anders?

Da war der Liebesbegriff zumindest nicht so explizit auf die romantische Liebe und damit auch auf eine Form leidenschaftlicher und sexueller Beziehung bezogen. Die Vorstellung vom »einzig wahren Menschen« verbunden mit Herzschmerz und dem Leiden an der Liebe beschreibt eine Liebespraxis, die wir tatsächlich der Tradition der Romantik verdanken. Bis dahin gab es zum Beispiel auch ein relativ gängiges Verb im Deutschen, das »freunden« heißt.

Was bedeutete das?

Das Wort geht zurück auf das Wort »friunt«, das so etwas wie »hegen und pflegen« bedeutet, etwas, das wir auch heute noch mit Freundschaft verbinden: Dem Gefühl von Geborgenheit und Halt sowie Ähnlichkeiten, die ein Gefühl von Verbindung schaffen, ohne es einzufordern. Auch das unterscheidet die Freundschaft von der Liebe: Sie ist eine »Wahlverwandtschaft«, die nicht vertraglich festgelegt werden darf - auch wenn wir gefühlt diese Ansprüche durchaus haben. Der französische Philosoph Michel de Montaigne verstand die Freundschaft als etwas Nährendes - im Gegensatz zur Liebe, an der man krankt und die einem Schmerzen zufügt.

Das Ende einer Freundschaft kann doch auch schmerzlich sein?

Ja, die Übergänge sind fließend. Aber für Montaigne beruht die Freundschaft auf einem geistigen Band, einem gemeinsamen Blick auf die Welt. Eine Verbindung, für die wir uns freiwillig entscheiden und die wir auch wieder lösen können. Der philosophischen Idee nach ist es zwar schmerzlich, wenn dieses geistige Band der Freundschaft zerreißt - sei es durch Entwicklungen oder zu große Distanz - aber es gibt ein Einvernehmen über das Ende einer Freundschaft, die so nicht mehr besteht. Was nicht bedeutet, dass wir darunter nicht leiden können.

Was bedeutet es für dieses geistige Band, wenn Freund*innen unterschiedliche Ideale, politische Vorstellungen entwickeln - oder ein anderes Einkommen?

Wenn sich neue Unterschiede entwickeln und bestimmte Automatismen nicht mehr greifen, bedarf es eines neuen Hegens und Pflegens. Aber die Frage ist, ob eine selbstverständliche Ähnlichkeit das tragende Element einer Freundschaft sein muss, oder ob das auch Differenzen oder sich ergänzende Verschiedenheiten sein können. Die Wertschätzung, die man sich unter Freunden entgegenbringt, kann gerade aus dieser unterschiedlichen Perspektive herrühren. Dabei stellt sich die Frage, ob man die Entwicklung mitgehen kann, wenn die Freundschaft in einer ganz anderen Situation entstanden ist. Entscheidend ist, wie bewusst man im Austausch darüber ist. Denn egal, wie »gleich« man möglicherweise mal gestartet ist, es wird immer Entscheidungen geben, die auf einen anderen Lebensweg führen, sei es Familiengründung, Umzug oder ähnliches.

Was macht Menschen überhaupt zu Freund*innen?

Aristoteles unterscheidet zwischen Nutzenfreundschaften, Lustfreundschaften und der Freundschaft der Trefflichen. Bei Nutzenfreundschaften ist es wichtig, ein gemeinsames Interesse zu verfolgen. Bei der Lustfreundschaft geht es ihm darum, dass es so etwas gibt wie ein Gefallen am Miteinander sein. Die Gesellschaft des anderen zu genießen, unabhängig davon, worauf es ausgerichtet ist. Das was die meisten von uns meinen, wenn sie von guten, wahren oder besten Freunden sprechen, ist erst das dritte. Für die Freundschaft der Trefflichen braucht es ein gemeinsames ethisches Verständnis darüber, was im Leben von Bedeutung sein soll. Dieser gemeinsame Wert ist etwas, das man bei einem ersten Treffen vielleicht »erspürt«, dann aber durch Sprechen und gemeinsames Erleben weiter ausarbeitet - oder eben auch nicht.

Funktioniert das auch digital, zum Beispiel in den sozialen Netzwerken?

Es kommt darauf an. Geht es darum, Menschen zu finden, die bestätigen, was ich sowieso schon glaube? Dann ist das im Grunde wieder eine nutzenbringende Gemeinschaft. Oder geht es um einen Austausch, der vielleicht aus einem Zweck entstanden ist, dann aber weit darüber hinaus geht? Dann entsteht eine Freundschaft - vielleicht sogar eine sehr innige - die aber meist dennoch auf eine bestimmte Facette meiner Persönlichkeit gerichtet bleibt. Das entspricht dann einem anderen, vielleicht modernerem Ideal von Freundschaft, wie es zum Beispiel von dem Soziologen Georg Simmel beschrieben wurde. Das hehre Ideal von Aristoteles entspricht meist ohnehin nicht unseren Erfahrungen in gelebten Freundschaften. Gerade in unserer schnellen und mobilen Zeit geht es oftmals darum, sich an bestimmten Stellen seines Seins zu vereinen. Aber darin wird die Frage umso wichtiger, wie wahrhaftig ich mich zu zeigen bereit bin: Lasse ich in solchen Beziehungen zu, dass es auch Differenzen gibt? Traue ich mir zu, Menschen aus der digitalen Welt auch in der Realität zu begegnen?

Hegel warnte davor, dass Freundschaften staatlichen Machtstrukturen gefährlich werden können, indem sie diese unterwandern. Auch Chefs versuchen zuweilen, Freundschaften unter Kolleg*innen zu unterbinden. Ist Freundschaft eine subversive Kraft?

Erst einmal ist Freundschaft eine positiv besetzte Kraft, nichts, das wir fürchten sollten. Wenn wir sie fürchten, dann geht es vielmehr um einen Wunsch nach Kontrolle und Herrschaft, der die Freundschaft anderer als potenzielle Gegnerschaft missversteht. Natürlich: Wenn sich Menschen befreunden, ziehen sie sich gegenseitig anderen Menschen vor, da wird keine Gleichbehandlung zu erwarten sein. Dennoch entsteht daraus nicht automatisch eine Bedrohung. Und so war Aristoteles - im Gegensatz zu Hegel - der Ansicht, dass Gemeinschaft, sogar eine Staatengemeinschaft, durch Freundschaft getragen sein sollte. Im Sinne der griechischen Idee des Politischen sollte Freundschaft die eigentliche politische Kraft sein, auf der ein soziales Gefüge ruht. Im Idealfall bräuchten wir dann so etwas wie Regeln und Gesetze nicht mehr, die für Gerechtigkeit sorgen.

Das heißt, wenn alle befreundet wären, wäre die Welt gerecht?

Genau, aber eher im Sinne einer grundlegenden Haltung, die die Freundschaft in all ihren Spielarten als Wert hochhält. Nicht im Sinne einer individuellen Freundschaft, was natürlich völlig utopisch wäre. Da wären wir eher bei Begriffen wie Solidarität, oder dem, was Aristoteles als »grundsätzliches Wohlwollen« beschreibt. Damit meint er, dem eigenen Handeln das Streben nach dem Guten zugrunde zu legen. Und das Gute verträgt kein Kontrollbedürfnis im Sinne des Eigenen. Wenn wir das Gute einmal nicht mit dem Eigenen verwechseln, ein Gedanke, den die Schriftstellerin Juli Zeh in die Debatte geworfen hat, dann entsteht die Möglichkeit, diesen Freundschaftsbegriff zu weiten.

Das Eigene mit dem Guten verwechseln - können Sie das erklären?

Na ja, zunächst geht es schlicht darum, nicht nur das für gut zu halten, was mir persönlich nützt, mir einen Vorteil verschafft oder mir Freude macht. Oft fehlen uns gegenwärtig aber die Maßstäbe für das, was wir prinzipiell für gut halten. Im Wunsch nach Freundschaft pflegen wir oft ein so hohes Ideal, dass wir den Eindruck bekommen, permanent zu scheitern. Wir versuchen dann, uns selbst als das Maß aller Dinge zu definieren und zu fragen: Was ist gut für mich? Was macht mich glücklich? Dabei verlernen wir, an etwas Gutes und Wertvolles zu glauben, das unabhängig von mir selbst ist oder das so etwas wie Verzicht oder Einschränkung von mir fordert. So entsteht ein narzisstischer Selbstbezug, der gar nichts mehr mit Freundschaft zu tun hat. Sondern einen ökonomischen Gedanken von freundschaftlichem Nutzen befördert.

Man sollte sich selbst also nicht so ernst nehmen?

Ja, das ist vielleicht der wichtigste erste Schritt. Dennoch sollte es auch darum gehen, mit sich selbst befreundet zu sein. Aber eben nicht in einem stetigen Optimierungsdrang oder einem Wunsch nach Steigerung des Eigenen. Stattdessen sollte man sich selbst annehmen, in der Verletzlichkeit und Bedürftigkeit, die einem als Mensch mitgegeben ist.

Was ist Freundschaft aus heutiger Sicht?

Ich glaube, das Freundschaft gleichzeitig ein kostbares Geschenk, aber auch ein hartes Stück Arbeit ist - und eine Entscheidung. Antoine de Saint-Exupéry hat ein Buch mit dem Titel »Bekenntnis einer Freundschaft« geschrieben, in dem es darum geht, dieses Bekenntnis zu formulieren. Wenn es schwierig wird, sich die Frage zu stellen: Ist das jetzt das Ende der Freundschaft? Oder kann ich neu überlegen, was bedeutet der andere Mensch für mich? Was gehört zu meiner »Freundschaftspraxis« und warum? Freunde sind nicht einfach Menschen, die uns durchs Leben tragen, sie fordern uns auch, aber sie sind immer eine Bereicherung. Dazu gehört Zeit und Aufmerksamkeit und der Mut, sich dieser Freundschaft wirklich zu widmen. Das scheint mir hin und wieder aus dem Blick zu geraten.

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