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Stetiges Misstrauen

Individuelles Leid als soziale Subversion? Zur Psychotherapie in der DDR.

  • Birgit Weidt
  • Lesedauer: 6 Min.

Noch immer steht das Lieblingsbuch von Marion Siedler* prominent im Regal, das Cover nach vorn: »Kindheitsmuster« von Christa Wolf. In dem 1976 erschienenen Buch geht es um eine Frau, die in Nazireich und Krieg aufgewachsen und 1947 aus dem jetzigen Polen vertrieben worden war. Darin der berühmte Satz: »Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.«

So erlebte die junge Frau auch ihre Mutter: fremd, abwesend, depressiv. Es war ein Schock, als diese sich das Leben nahm. Über die Frage nach dem Warum stieß Marion auf eine von der Mutter beschwiegene Vergangenheit: Flucht aus Ostpreußen, Bombenangriffe, Vergewaltigung, Trennung von den Geschwistern durch den Mauerbau.

Denkt Marion an ihre Kindheit und Jugend, erinnert sie sich an Traurigkeit und Melancholie. »Ich hatte das Gefühl, dass sich über unsere Familie ein dünnes, schwarzes Tuch legte, ohne zu wissen, warum eigentlich.« Psychotherapeutische Hilfe, die ihre Mutter hätte in Anspruch nehmen wollen, gab es nicht auf dem Lande. Und das »wäre so etwas nur für Verrückte«, so der Vater.


Gefühle aus dem Hinterhalt

»Unterdrückte, weggeschobene Gefühle verhalten sich wie Partisanen«, weiß Marion heute, »die preschen irgendwann aus dem Hinterhalt hervor.« Nach der Wende begann sie eine Psychotherapie gegen Ängste und Panikattacken. »Es hat lange gebraucht«, so Marion rückblickend, »um zu erkennen, dass die Traumatisierung von Krieg, Nachkriegszeit, DDR und Mauerbau auch auf mich Auswirkungen hatte. Es war ein Trugschluss anzunehmen, dass das Schweigen meiner Mutter mich geschützt hätte.« Im Gegenteil hatten deren Alltagsreaktionen, ihre Worte, der Klang ihrer Stimme, ihre Mimik stets ein Gefühl von Bedrohung vermittelt.

»Diese Weitergabe an die nächste Generation geschieht vor allem dann, wenn die Erlebnisse beschwiegen wurden – aus Scham, aus Angst, oder weil sie von dem herrschenden politischen System für Tabu erklärt worden waren«, sagt die Soziologin Uta Rüchel. Ein Beispiel sei die Flüchtlings- und Vertriebenenpolitik nach 1945. Im Westen war das ein großes Thema, in der DDR wurde – auch nach Christa Wolfs Buch – kaum über die Schicksale der »Umsiedler« gesprochen, obwohl es davon vier Millionen gab in dem kleinen Land. Eine Studie des Ostberliner »Hauses der Gesundheit« nach 1989 ergab, dass mehr als die Hälfte der Patienten aus Flüchtlingsfamilien stammten.

Die DDR bedeutete für viele Konformitätsdruck, Überwachung, Berufs- oder Studienverbote, Beschränkung der Reisefreiheit. Doch inneres Leiden und psychotherapeutische Hilfsbedürftigkeit waren schwierige Themen in einer Gesellschaft, die den definitionsgemäß glücklichen sozialistischen Menschen hochhielt. Erst ab den 1960er Jahren gab es überhaupt stationäre Psychotherapie in Unikliniken und Bezirkskrankenhäusern mit einer ambulanten Weiterführung. Üblich war Gruppentherapie, für Einzelbehandlungen fehlte das Personal. Das Angebot entsprach nie dem Bedarf.


Wie hältst du’s mit der Macht?

Das hatte mit einem Misstrauen des Staates zu tun, das Konjunkturen erlebte, aber nie verschwand. Oft war das ganz unbegründet, wenn Psychotherapeuten ihre Aufgabe in der Erziehung eben jenes sozialistischen Menschen sahen. Andere betrachteten ihre Praxis aber tatsächlich auch als oppositionell: »Psychiatrische Abteilungen waren – wenngleich geheimpolizeilich überwacht – in der schwer zu durchschauenden Unheimlichkeit ihrer Pathologien doch geschützte Freiräume,« schreiben die Psychotherapeuten Ulrich Bahrke und Ludwig Drees in ihrem Buch zur »psychischen Erbschaft der DDR«: In diesen »Nischen« habe man versucht, »eine stärkende, wertorientierende und demokratische Gegenkultur zu entfalten, die uns innerlich eine unabhängigere Position ermöglichte.« Dennoch steht für Bahrke und Drees außer Frage, »dass wir vom DDR-System berührt und beeinflusst waren«. Psychotherapie in der DDR blieb eine Gratwanderung zwischen Anpassung und Auflehnung.

Besondere Schwierigkeiten gab es mit der Etablierung der Psychoanalyse. Als reaktionär und unwissenschaftlich eingestuft, wurde sie weder zugelassen noch verboten, war aber immerzu geächtet. Die meisten Analytiker hatten das Land verlassen, die verbliebenen hielten sich lange von der Psychoanalyse fern. Einige wenige Analytiker wurden im »Haus der Gesundheit« ausgebildet, eine der wichtigsten Einrichtungen der DDR. Deren langjähriger Leiter Christoph Seidler erinnert sich, dass »die Grundfrage der Psychoanalyse in unserem Verständnis eingeengt und verschoben war: Wir fragten nicht, wie hältst du es du es mit Liebe und Sexualität. Hier gab es zunächst die Frage: Wie hältst du es mit der Macht?« Die sollte zumindest implizit in den Sitzungen hinterfragt werden.

Es gab in der Psychotherapie Freiräume, aber auch Überwachung. Michael Geyer, lange Direktor der Klinik für Psychotherapie in Leipzig und Vorsitzender der Gesellschaft für Psychotherapie in der DDR, fand in seiner Stasiakte neun Informanten, darunter zwei Kollegen – etwa ein »Fred Wolke«, der mit ihm in einer Selbsterfahrungsgruppe saß. Diese meldete unter anderem ein Hilfsgesuch an Analytikerkollegen im Westen, die Folge waren berufliche Einschränkungen.

Über das Ausmaß der Bespitzelung ist noch zu wenig bekannt. Die Betroffenen schweigen oder bestreiten ihre Arbeit für das MfS. Sonja Süß, eine aus der Bürgerrechtsbewegung stammende Nervenärztin, befand nach fünf Jahren Recherche in der Unterlagenbehörde, ein systematischer Missbrauch wie in der UdSSR habe in Ostdeutschland nicht stattgefunden. Es gab aber viele, teils dramatische Fälle, in denen etwa Behandelnde über Patienten berichteten.

Ans Licht kam das nach 1989. Annette Simon, ostdeutsche Psychoanalytikerin und Christa Wolfs Tochter, empfand beim Lesen ihrer Akte eine Wut, »wie eine über Jahre vollzogene Verdrängung von Angst blind machen kann!« In einem Artikel über die »Psychoanalytische Reflektion zur Funktion der Stasiunterlagen« schreibt sie, ein Viertel ihrer Patientinnen sei »direkt oder indirekt mit Maßnahmen der Staatssicherheit« konfrontiert gewesen. Sie hätten nicht allein deshalb Hilfe gesucht, doch seien sie davon »entscheidend mit beeinflusst und geprägt«.

Harald Freyberger, Professor für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik in Greifswald, erstellte 2003 mit Kollegen ein Gutachten über die gesundheitlichen Folgen politischer Repressalien in der DDR: Mindestens 300 000 Betroffene litten noch unter Beeinträchtigungen. Gravierend sei vor allem die Latenz gewesen, insofern »die Verfolgung nicht mit dem Ende der politischen Haft abgeschlossen war, sondern sich in Zersetzung und weiteren Repressalien fortführte«. An der MfS-Hochschule in Potsdam-Golm wurden Techniken »Operativer Psychologie« systematisch gelehrt.


Politik und Suizid

Erschreckend war die Suizidrate in der DDR. Marions Mutter war beileibe kein Einzelfall. Jährlich gab es im Schnitt 6000 Selbsttötungen, im Verhältnis zur Bevölkerungszahl rund 50 Prozent mehr als in der der BRD. Es zeigen sich politische Korrelationen: »Anfang der 1960er Jahre stieg die Selbstmordrate um fast zehn Prozent an« so der Historiker und Publizist Udo Grashoff in seinem Buch über Suizide in der DDR. Es zeigte sich auch, dass sich in mauernahen Bezirken wie Potsdam, Frankfurt/Oder und Ost-Berlin mehr Menschen das Leben nahmen als anderswo. 1989 war dagegen das Jahr mit der bei weitem niedrigsten Zahl.

Ende der 1960er Jahre entstanden mit Unterstützung des Gesundheitsministeriums Ansätze eines DDR-weiten Programms zur Suizidprävention. In den psychiatrischen Kliniken Dresden und Brandenburg forschte man nach Ursachen und Motiven und richtete eine »Betreuungsstellen für Suizidgefährdete« ein. Maßgabe war dabei freilich auch, so Grasshoff, das Thema aus der Öffentlichkeit herauszuhalten. Man fürchtete eine »damit verbundene Kritik an den politischen Verhältnissen«. Teils galt Suizid als »Ausdruck bürgerlicher Dekadenz« sowie eines »fehlgeleiteten Individualismus«.

Siedler hat im Rahmen einer Therapie über ihre Ängste und Panikattacken in Verbindung mit ihrer Familiengeschichte sprechen können, »entlastend und heilsam«, sagt sie. Das hätte sie auch ihrer Mutter gewünscht. »An den Mauerfall wird erinnert, doch etwas Entscheidendes ist all zu oft ausgelassen worden: Die DDR ist nicht nur das Leben unserer Eltern und Großeltern, sondern wirkt zum Teil bis heute auf uns.«
* Name geändert

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