Game over

Thüringens neuer Ministerpräsident Thomas Kemmerich will sein Amt wieder abgeben. Irgendwie

  • Sebastian Haak
  • Lesedauer: 4 Min.

Es ist erkennbar ein schwerer Gang für Thomas Kemmerich. Bekannt ist der FDP-Landeschef bislang für gewisse Äußerlichkeiten: schwarze Cowboystiefel und eine Glatze, auf die er gern selbstironische Anspielung macht. Am Donnerstag scheint ihm jede Leichtigkeit abhanden gekommen zu sein. Mit versteinertem Gesicht trat er am frühen Nachmittag in den sogenannten Bürgersaal der Thüringer Staatskanzlei in Erfurt. Eine Hand in der Tasche, die andere umklammert Papier. Nur kurz verzieht er die Mundwinkel zu einem gequälten Lächeln, ehe er ans Rednerpult tritt.

Hinter Kemmerich, hinter Thüringen und der ganzen Bundesrepublik liegen zu diesem Zeitpunkt Stunden, in denen sich Szenen abgespielt haben, die in der jüngeren Geschichte des Landes einzigartig sind. Die Wahl des Thüringer FDP-Vorsitzenden zum Regierungschef des Freistaats am Tag zuvor - offenkundig gestützt auf die eigene Fraktion, die Mehrheit der CDU-Parlamentarier sowie auf alle Mandatsträger der AfD. Letzteres war seit der Entscheidung ungezählte Male als Dammbruch, als Super-GAU für den demokratischen Konsens in der Bundesrepublik nach 1945 beschrieben worden.

Nur Minuten nach Kemmerichs Wahl hatten sich Demonstranten vor dem Landtag versammelt, um gegen die Art und Weise, wie der FDP-Chef gegen den bisherigen Linke-Ministerpräsidenten Bodo Ramelow ins Amt gehoben war, zu protestieren. Kurz darauf gab es solche Proteste deutschlandweit, den vielleicht größten in Jena, wo mehrere Tausende auf der Straße waren. Auch während Kemmerich in den Bürgersaal schreitet, stehen vor der Staatskanzlei seit Stunden wieder Demonstranten. »Rücktritt, Rücktritt, Rücktritt«, rufen sie. Einige von ihnen haben sogar Zelte mitgebracht. »Campen gegen Kemmerich«, nennen sie ihre Aktion. Protestierende, die in Schlafsäcke und Rettungsdecken gehüllt in der Kälte liegen, sagen, sie wollten erst weichen, wenn Kemmerich zurücktrete.

Der gibt nun im Saal bekannt, die FDP-Fraktion wolle Neuwahlen auf den Weg bringen. »Demokraten brauchen demokratische Mehrheiten, die sich offensichtlich in diesem Parlament nicht herstellen lassen«, sagt der Noch-Regierungschef. Die Liberalen wollten den Makel der Unterstützung durch die AfD »vom Amt des Ministerpräsidenten« nehmen. Das Wort Rücktritt nimmt Kemmerich in seinem kurzen Statement allerdings nicht in den Mund.

Doch der sofortige Verzicht auf das Amt des Ministerpräsidenten ist genau das, was die Vertreter von Rot-Rot-Grün von Kemmerich erwarten. Spitzenmänner und -frauen von Linke, SPD und Grünen sprechen vor dessen Auftritt im Foyer des Landtags auch von einem massiv beschädigten Vertrauensverhältnis zu den Abgeordneten von CDU und FDP. SPD-Fraktionschef Matthias Hey sagt, er könne sich nicht vorstellen, wie die Abgeordneten seiner Partei sowie von Linke und Grünen derzeit mit Christdemokraten und Liberalen in Ausschüssen sitzen und etwa über Umgehungsstraßen reden sollten.

Auch der Grünen-Fraktionsvorsitzende Dirk Adams fordert nach Kemmerichs Auftritt dessen sofortigen Rücktritt - »ohne Wenn und Aber, ohne Taktieren«. Kemmerichs Pressestatement sei »unklar« gewesen.

Dazu passt, dass auch der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner vieles im Unklaren lässt, als er etwa eine Stunde nach Kemmerich auftritt. Ebenfalls unklar ist auch am Ende des Tages, wie konkret es in Thüringen nun weitergehen soll, wann die Neuwahlen stattfinden sollen, die Kemmerich am Mittwochabend und auch Donnerstagmorgen noch ausgeschlossen hatte. Lindner war am Morgen in die Landeshauptstadt gekommen, um persönlich mit Kemmerich zu sprechen.

Ob er den Thüringer Amtskollegen zum Rücktritt habe drängen müssen, wird der FDP-Chef gefragt. Und ob er Kemmerich mit seinem eigenen Rücktritt vom Amt des Bundesvorsitzenden gedroht habe, falls der sein Amt behalte. Ob Kemmerich sich nicht erst in die Abhängigkeit von der AfD gebracht habe, indem der die Wahl angenommen habe. Lindner betont darauf, es sei doch gut, dass Kemmerich die Situation nach »nur 24 Stunden« bereinige, nachdem er sich erst einmal »einen Überblick über die Lage« habe verschaffen müssen. Die meisten Demonstranten sind bereits verschwunden, als Lindner vor die Presse tritt. Der Schaden für die Demokratie, den Thüringer FDP und CDU angerichtet haben, der bleibt.

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