Vom Flüchten

»Psalm 44« - ein Frühwerk von Danilo Kiš

  • Sabine Neubert
  • Lesedauer: 3 Min.

Auschwitz. Das Ungeheuerliche, kaum fassbar. Lässt es schreibend bewältigen? Paul Celan und Primo Levi - stellvertretend für Viele - versuchten es. 1962, zwei Jahre vor Hannah Arendts Eichmann-Buch (»Das sogenannte Böse«), erschien in Belgrad der Kurzroman »Psalm 44« des 25-jährigen Danilo Kiš. Es ist die auf Tatsachen beruhende Geschichte einer jungen Jüdin namens Maria, der im Jahre 1944 mit ihrem sieben Wochen alten Sohn die Flucht aus Birkenau gelingt.

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Danilo Kiš: Psalm 44. A. d. Serbokroat. v. Katharina Wolf-Grießhaber.
Hanser, 136 S., geb., 20 €.

Das Buch ist nie ins Deutsche übersetzt worden. Sein Erscheinen ist längst überfällig, auch wenn der Roman noch nicht die Vielschichtigkeit, die metaphorische, oft surreale Abgründigkeit der späteren Werke Kiš' besitzt. Mit »Psalm 44« wird aber nicht nur eine literarisch-biographische Lücke geschlossen, hier wird der Shoah-Literatur ein bedeutendes »Denkmal« für das (Über-)Leben hinzugefügt - einer Literatur, die zu Beginn der 60er-Jahre noch wie eine kleine Flamme unter dem Schirm des Schweigens gehalten wurde. Dann erst begann die genauere Wahrnehmung des Ausmaßes der Verbrechen - man muss hier kaum hinzufügen, dass dem Buch heute wieder zusätzlich Bedeutung zukommt.

Der eigentliche Fluchtbericht konzentriert sich auf wenige Stunden. 1944: In der Ferne hört man schon den Kanonendonner der näher rückenden Front. Die Evakuierung des Lagers steht kurz bevor. Es ist später Abend. Die Französin Jeanne und die Jüdin Maria warten auf ein vereinbartes Signal. Dann geht alles ganz schnell, den beiden Frauen gelingt es nur knapp, mit dem Säugling über den von Scheinwerfern erleuchteten Hof zu fliehen und durch ein Loch unter dem Lagerzaun zu kriechen. In das Fluchtgeschehen sind Erinnerungen Marias an frühere Ereignisse eingefügt. Vergangenes scheint immer wieder in traumatischen Szenen auf: Anfeindungen, schon als Kind erlebt, das Massaker von Novi Sad, aber auch die Rettung durch den jüdischen Arzt Jakob zu Beginn der Lagerhaft, der sie vor Experimenten des Dr. Nietzsche (Dr. Mengele) bewahrte, und eine heimliche, von Todesangst überschattete Nacht mit Jakob.

»Psalm 44« schrieb Danilo Kis (1935 - 1989) angesichts seines in Auschwitz ermordeten Vater. Kiš, geboren in Subotica in Serbien, war der Sohn eines ungarischen Juden und einer Montenegrinerin. Als der Vater 1944 deportiert wurde, begann für Mutter und Kind ein Leben auf gepackten Koffern und ständiger Fluchten. »Du machst uns zum Sprichwort unter den Heiden … Du gibst uns dahin wie Schlachtschafe«, heißt es in diesem biblischen Psalm. Vorangestellt hat Kis dem Buch nicht nur diese Zeilen, sondern auch die alttestamentliche Geschichte, in der ein Engel Hagar die Geburt ihres Sohnes Ismael verheißt. Mit seiner Mutter wird Ismael später verstoßen und in die Wüste gejagt. So ist »Psalm 44«, heute gelesen, auch eine aktuelle Fluchtgeschichte.

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