Den Bürger retten, wo er noch zu retten ist: auf der Bühne

Kein »Hokuspokus« und doch: Horst Schönemann wird 75!

  • Armin Stolper
  • Lesedauer: 6 Min.
Dass der aus Düsseldorf stammende Horst Schönemann am heutigen 19. Januar 2002 seinen 75. Geburtstag unweit seiner letzten Wirkungsstätte, der Dresdener Komödie, mit Frau, Kindern, Enkeln, alten und neuen Freunden würde feiern können, daran mochte er ein gutes Jahr zuvor selbst nicht geglaubt haben. Zehn Tage vor der Premiere hatte er damals die Regie niederlegen und die Schauspieler - Hauptrollen spielten Günter Junghans und Alfred Müller - bitten müssen, die Arbeit an Goetzens Komödie »Das Haus in Montevideo« allein zu Ende zu bringen. Er wechselte vom Regiestuhl auf den Schneidetisch der Chirurgen; dass er überlebte, verdankte er Ärzten, Schwestern, Therapeuten, seiner Frau Gerda und dem eigenen zähen Willen, wieder auf die Beine zu kommen. Als wir in den fünfziger Jahren in Senftenberg, dem Zentrum des damals florierenden Braunkohlebergbaus, unser dem normalen Stadttheaterbetrieb entgegengesetztes proletarisch akzentuiertes Volkstheater machten und damit republikweites Aufsehen erregten, hatte mich Schönemann eines Tages gefragt, ob ich ihm raten würde, Gerda, die Tochter einer Senftenberger Friseurfamilie, zu ehelichen. Ich, etliche Jahre jünger als er, hatte ihm gesagt: Tu es, und so habe ich einen gewissen Anteil am Zustandekommen dieser dauerhaften und lebensfördernden Verbindung. Zwei Jahrzehnte später, bevor wir Halle verließen und ans Deutsche Theater gingen, hatte mich Schönemann gefragt, ob ich zusammen mit ihm nach Island fliegen möchte, wo eine Tagung der Nordischen Theaterunion stattfand, auf der er über den Umgang mit Klassikern auf den Bühnen der DDR berichten sollte. Weil er meinte, sich die Reise allein nicht zutrauen zu können, hatte ich nicht den Mut, ihm eine Absage zu erteilen, und so wurde mir ein Lebenstraum erfüllt - zu DDR-Zeiten. Auf meinen Rat als Dramaturg hat Schönemann in seinem Leben als Regisseur oft gehört und manche Male auch nicht; ich bilde mir ein, dass er, solange ich an seiner Seite stand und er später auch einige meiner Stücke aufführte, dies uns beiden zu Buche schlug. So verbinden uns ertragreiche und lustvolle Jahre der Zusammenarbeit in Senftenberg, am Maxim Gorki Theater und schließlich das halbe Jahrdutzend in Halle, wo wir unser gemeinsames »Zeitgenossen«- und »Anregungsprogramm«, nicht widerspruchslos geduldet, aber doch gefördert vom SED-Bezirkssekretär Horst Sindermann, verwirklichen konnten. In den vielen Jahren seiner ensemblebildenden, demokratischen Mitbestimmungsformen ausprobierenden, konzeptiven Theaterarbeit haben ihm Autoren, darunter Rainer Kerndl und Claus Hammel, Hermann Kant und Ulrich Plenzdorf, Helmut Bez, Heinz Drewniok und Heinar Kipphardt, viel zu danken. Manche der mit viel Aplomb gestarteten Zusammenarbeiten blieben auf der Strecke - die Betroffenen können ein Lied davon singen -, manche Absichten wurden zur Strecke gebracht, so wie die Dresdener Uraufführung von Volker Brauns »Parteibraut«. Zu den unerfüllten Hoffnungen in seinem Leben muss aber auch das gemeinsame Engagement von uns Hallensern am Deutschen Theater Berlin gezählt werden. Schönemann, ein begabter und initiativreicher Schüler von Wolfgang Langhoff und Wolfgang Heinz, der sich rasch in eigener Arbeit zu profilieren begann und viele Jahre zu den wichtigsten Regisseuren der Theaterszene in der DDR gehörte, war während seiner siebenjährigen Tätigkeit am Deutschen Theater insgesamt ein glücklos hantierender Mann. Es erfüllte sich prompt, was ich uns vorhergesagt hatte, nämlich einen Absturz ins Tal der Enttäuschung, weshalb mich mein Freund Horst damals als Defätist bezeichnet hatte. Zu sich und seinen Fähigkeiten fand er - nach eingehender Prüfung der Arbeitsmöglichkeiten - erst wieder, als er sein letztes Jahrzehnt als Schauspieldirektor am Staatstheater Dresden begann. Hier war er erfolgreich mit zeitgenössischen Stücken wie mit Klassikern, hier entwickelte sich neben ihm der bald das Dresdener Theaterprogramm dominierende Regisseur Wolfgang Engel, hier profilierten sich in Schönemann-Inszenierungen Dagmar Manzel, Regina Jeske, Hannelore Koch, Peter Hölzel (letzterer unvergesslich in einer Aufsehen erregenden »Bruder Eichmann«-Inszenierung), Rudolf Donath und Günter Kunze. Dass das Dresdener Staatsschauspiel zu einem weit über die Grenzen der Stadt hinaus berühmtem und anerkanntem Theater avancierte, verdankt es in hohem Maße Schönemann und der Intendanz von Gerhard Wolfram. Als ich hörte, dass Schönemann 1989 zu einem der Dresdener Wortführer geworden war, die sich der Illusion hingaben, mit ihrer radikalen Kritik an den Missständen in unserem Lande eine verbesserte DDR zu bekommen, in der weder die verknöcherte Ideologie noch das alles bestimmende Kapital regieren würden, stimmte mich das traurig und bitter zugleich. In all meiner eigenen Unsicherheit dieser Wochen und Monate vermochte ich meinem Freund und Förderer hier nicht zu folgen, und es brauchte eine geraume Zeit, um uns in einer rückverwandelten Welt wiederzufinden. Schönemann hat sich auch nach seiner Pensionierung nicht wieder aus Dresden fortbegeben; wahrscheinlich sind es die in einem Vierteljahrhundert gewachsenen Beziehungen zu dieser Stadt, ihrer Kultur und Kunst, das alte und das neue bürgerliche Milieu, das ihn hier festhält, wo er bis heute weiter davon träumt, humanistische Werte bürgerlicher und sozialistischer Art in einer von Kommerz und Kapital geprägten Welt bewahren und - soweit ihm das noch möglich ist - auch leben zu können. Er hat in seiner Zeit als sozialistisch überzeugter Theatermacher eine strikt antibürgerliche Haltung in vielen seiner Inszenierungen gezeigt; ich denke nur an Kaisers »Nebeneinander«, Sternheims »Hose«, Gorkis »Kleinbürger« und »Nachtasyl«, Hammels Fontane-Adaption »Frau Jenny Treibel«; er mag die Kritik an bürgerlichen Werten bisweilen überscharf und einseitig betrieben haben, so dass es ihm im Alter danach drängt, den Bürger zu retten, wo er zu retten ist, nämlich auf der Bühne. In diesem Sinne bewerte ich seine Hinwendung zu Hauptmann-Stücken, in denen er beachtliche Entdeckungen im menschlichen Bereich machte, etwa in den »Einsamen Menschen« bei der Gestalt der Käthe Vockerath. Am 75. Geburtstag werden ihm manche Freunde nicht mehr gratulieren können; darunter Gerhard Wolfram, den er sich noch unter Modrow (als von Berlin gefeuerten Intendanten) nach Dresden geholt hatte; Kurt Böwe, der seine Entdeckung und frühe Entwicklung in entscheidendem Maße Schönemann verdankt; Roman Silberstein, beides prägende Schauspieler der Hallenser Zeit. Aber Uschi Werner, Alfred Müller, Uwe-Detlev Jessen, Horst Weinheimer, Martin Trettau, Wolfgang Winkler und manche andere sind Gott sei Dank noch am Leben, vor der Kamera und auf der Bühne und werden ihm ein herzliches Toi-toi-toi entbieten. Vielleicht wird »Hokuspokus«, seine nach der Operation an der Dresdener Komödie erfolgte Inszenierung nicht die letzte Tat in seinem an hervorragenden Taten reichen Regisseurleben sein; vorrangig in einem Land erbracht, das DDR hieß. Dass dieses auch als Theaterland keineswegs zu einer Fußnote der Theatergeschichte werden wird, das verdankt es auch dem Tun eines Mannes wie ihm. In der Gemeinsamkeit wie im Widerspruch fühle ich mich ihm verbunden, einem Menschen und absichtsreichen Theatermann, mit dem ich vor einem halben Jahrhundert im Katalog der großartigen Ausstellung »The Family of Man« blätterte, deren Bilder unser gemeinsames wie unterschiedliches Tun wohl bis heute mitbestimmt haben mögen. Fotos: privat
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