Leben mit hohem Risiko

Das Coronavirus trefft nicht alle gleich. Besonders gefährdete Menschen erzählen, wie sie sich vor einer allgegenwärtigen Gefahr schützen.

  • Fabian Hillebrand
  • Lesedauer: 10 Min.

Das Coronavirus trifft nicht alle gleich. Forscher*innen sind dem Krankheitserreger auf der Spur und finden dabei immer mehr über verschiedene Risikogruppen heraus. Nicht alle Menschen, die gefährdet sind, sind über 60. Bestimmte Vorerkrankungen erhöhen das Risiko der Ansteckung mit dem Coronavirus und einem schweren Verlauf der COVID-19-Krankheit. Menschen mit Glasknochen, schwachen Immunsystemen oder Menschen, die nicht abhusten können - das Virus gefährdet sie besonders. Wie schützen diese Menschen sich vor einer Gefahr, die überall lauert. Wie gehen sie mit der sozialen Isolation um, die für sie nicht nur einige Wochen andauert, sondern sie wahrscheinlich monatelang begleitet? Zehn Menschen haben es uns erzählt.

Mit dem Vierbeiner allein zu Hause Elena Zubiaurre hamstert sich durch die Krise

Seit einigen Tagen hat Elena Zubiaurre einen Hamster. Einen Namen hat er noch nicht. Vielleicht wird es Dr. Drosten, vielleicht aber auch Dr. Addo, die ist schließlich auch Hamburgerin. Die 27-Jährige hat Multiple Sklerose und nimmt dagegen Medikamente. Ausgerechnet diese setzen sie einem hohen Risiko aus, sich mit Covid-19 zu infizieren und einen schweren Verlauf zu erleben.

Es war gar nicht so einfach, ihren Eltern und Freund*innen zu erklären, dass sie jetzt erst einmal nicht zu Besuch kommen sollten. »Die haben das nicht verstanden«, sagt Zubiaurre. Sie will sich schützen. Das heißt auch, dass ihr der Einkauf in der nächsten Zeit vor die Wohnungstür gelegt wird.

Es sind radikale Entscheidungen, die Zubiaurre gerade fällen muss. Ihren Neurologen hat sie noch nicht erreicht. Aber Zubiaurre ist es durchaus gewohnt, im Ungewissen zu navigieren. »Krankheitskompetenz« nennt sie das. Schon einige Wochen bevor in Deutschland Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus getroffen wurden, hat sie angesichts der Nachrichten aus anderen Teilen der Welt angefangen, nur noch von zu Hause aus zu arbeiten.

Das Parlament verlassen - Katrin Langensiepen klagt über die Privatisierung des Gesundheitssystems

Den Tod hat sie schon als Kind ausgetrickst. Nach ihrer Geburt blieb sie vier Monate im Krankenhaus. Katrin Langensiepen nennt sich selbst gerne mal eine »Luxusbehinderte«. Ihr fehlen die Speichen in den Unterarmen, was besonders dann nervig ist, wenn der Brötchenkorb im angeblich behindertenfreundlichen Hotel mal wieder zu hoch hängt.

2019 zog Langensiepen als erste Frau mit einer sichtbaren Behinderung ins Europaparlament ein. Sie ist 40 Jahre alt und kommt aus der Region Hannover.

Mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie hat sie ihr Büro in Brüssel geräumt und arbeitet erst einmal aus dem Homeoffice. Ihr gehe es gesundheitlich »ganz gut«.

Aufgrund ihrer Blutkrankheit hat sie ein schwaches Immunsystem und ist damit anfällig für die Krankheit Covid-19. Deshalb arbeitet sie in selbstauferlegter Quarantäne und meidet menschliche Kontakte, um sich und andere zu schützen. Im Rahmen rechtsstaatlicher Möglichkeiten müsse man alles versuchen, um die Bevölkerung zu schützen. Die Bedingungen sind aber nicht ideal, zeige das Virus doch vor allem einen großen Fehler der Vergangenheit auf, meint Langensiepen: Die Privatisierung des Gesundheitssystems.

Immer, aber gerade in dieser Zeit sei für Menschen mit Behinderungen vor allem der barrierefreie Zugang zu Kliniken und Pflegeeinrichtungen wichtig sowie einfach verfügbare Informationen.

Unmöglich ins Gesicht zu fassen - Eliza Gawin will nicht jammern, sondern handeln

Die ganze Welt ist momentan hektisch damit beschäftigt, sich nicht mit den Händen im Gesicht herumzuspielen. Eliza Gawin hat dieses Problem nicht. »Ich kann mir seit 2007 nicht mehr ins Gesicht fassen«, erzählt Gawin schmunzelnd.

Die 26-Jährige arbeitet als freiberufliche Grafikerin und Webdesignerin, sie veröffentlicht digitale Illustrationen unter dem Projektnamen »Muskelschwundkunst« und schreibt Texte für ihren Blog »Ach, das bisschen Rollstuhl«. Seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie verzichtet Gawin auf eigentlich wichtige Termine wie die regelmäßige Physiotherapie oder die Besprechung über einem Rollstuhlumbau.

Einige ihrer Assistent*innen, die sie im Alltag begleiten, hat sie zeitweise in Quarantäne geschickt. Zur Sicherheit. Ansonsten gilt: möglichst viel online erledigen. Als Person mit schweren Vorerkrankung ist Gawin ohnehin darauf vorbereitet, mental und organisatorisch einiges zu stemmen. Handeln statt jammern. Die Zeiten sind trotzdem belastend.

Vieles bekommt einen neuen Stellenwert - Constantin Grosch hat keine Termine, dafür einige Sorgen mehr

Normalerweise ist der Lokalpolitiker Constantin Grosch viel auf Reisen. Jetzt ist erstmal alles abgesagt. Da insgesamt acht Personen ihn pflegen, müssen auch diese in ihrem privaten Leben besondere Vorsicht walten lassen, um sich nicht mit dem Virus zu infizieren.

Corona entschleunigt. Der SPD-Politiker aus Hameln hat alle Termine abgesagt oder abgesagt bekommen. Deadlines und Verpflichtungen sind gefallen. Das tut auch gut, erzählt Grosch. Wäre da nicht die lähmende Sorge, infiziert zu werden. Grosch hat eine sehr geringe Lungenfunktion und würde eine durch das Virus ausgelöste Erkrankung wohl nicht überleben. Da kommen auch Zweifel hoch, erzählt der 27-jährige Soziologiestudent. Was ist jetzt noch wichtig? Das Virus wirft für ihn existenzielle Fragen auf.

Auch deshalb ärgert ihn die Ignoranz vieler Menschen, gerade derjenigen, die die Gefahr der Krankheit herunterreden. Sie sollten sich immer der Konsequenz bewusst sein. Wenn sie mit ihrer Sichtweise falsch liegen, wenn sie sich nicht an die Handlungsempfehlungen zum Beispiel der Beschränkung sozialer Kontakte halten, könne das Menschen in Gefahr bringen, sie töten. »Und ich wäre einer von ihnen«, so Grosch.

Keine Lesungen und Termine mehr - Friedhelm Schneidewind wehrt sich schon immer gegen das Händeschütteln

Aufgrund seiner dritten Knochenmarktransplantation hat Friedhelm Schneidewind alle zuvor erworbenen Immunitäten verloren. Erneut impfen lassen, kann er sich erst in einem halben Jahr. Seit er Anfang März aus der Anschlussheilbehandlung gekommen ist, hat er das Haus nur zweimal verlassen, beide Male, um eine Klinik aufzusuchen.

Gegen das Händegeben argumentiert Schneidewind schon seit Jahren und verweigert es aus medizinischen Gründen; dass dies wegen Corona aus der Mode kommt, findet er sehr gut, hofft sogar, dass das auf Dauer so bleiben könnte.

Seit dem Ausbruch des Coronavirus hat sich der Alltag von Schneidewind verändert. Auf der Leipziger Buchmesse sollte er aus seinem neuen Fantasy-Roman lesen, diese ist wie andere Lesungen und Veranstaltungen bis in die Jahresmitte hinein abgesagt.

Schneidewind ist insgesamt mit der Vorgehensweise der Regierungen ganz einverstanden, zu hoffen sei, dass Maßnahmen, die Bürger- und Menschenrechte einschränken, auch wieder zurückgenommen werden. Darauf müssen wir alle in Zukunft achten, so Schneidewind.

Räder statt Lackschuhe - Vanessa Grand ist Schlagersängerin und meint, es fehle an Hilfsangeboten

Was anderen ihre roten Lackschuhe, sind ihr ihre vier Räder. Bühne, Show und Rollstuhl passen gut zusammen. Vanessa Grand, Jahrgang 1978, ist eigentlich auf der Bühne beheimatet. Als Sängerin und Schlagerstar ist sie eine kleine Berühmtheit in der Schweiz, ist dort in diversen Fernsehformaten aufgetreten. Wegen des Coronavirus hat sie ihre sozialen Kontakte auf Null gestellt, zumindest die physischen Begegnungen. Über Telefon und soziale Medien hält sie Kontakt, ansonsten sieht sie nur noch ihre Eltern.

»Mir fällt das nicht ganz leicht - ich bin ein geselliger Mensch«, erzählt sie. Gerade die alltäglichen Dinge fehlen. Einmal hinaus gehen, einen Kaffee trinken in der Innenstadt.

Vanessa Grand hat eine Assistenzhündin, sie heißt »Betsy« und kann eigentlich alles. Auch der Labrador muss von Zeit zu Zeit an die frische Luft. Zu Hause bleiben, sich schützen und damit auch andere, das ist aber gerade angesagt.

Für Menschen mit Behinderung sei die Beratung zum Coronavirus spärlich, meint Grand. In ihrer Gemeinde gäbe es zwar eine Hotline, bei der man sich melden könne, richtige Hilfsangebote habe es dort aber nicht gegeben.

Vier Wände, ein Problem - Jana Ribbeheger wünscht sich die Zeit mit sozialem Austausch zurück

»Ich lebe derzeit 24/7 in meinen vier Wänden.« Jana Ribbeheger ist 22 Jahre alt und gehört wegen einer Muskelerkrankung zu einer Risikogruppe. Sie geht nun kaum mehr vor die Tür und hat ihre Kontakte auf ein Mindestmaß beschränkt.

Einkäufe erledigen andere Personen für sie. Nur für die Hilfen, die für Ribbeheger im Alltag wirklich unverzichtbar sind, kommt jemand vorbei, um ihr zu assistieren.

Ribbeheger arbeitet aus dem Homeoffice, um ein zusätzliches Ansteckungsrisiko zu minimieren. Früher ist sie mit dem Taxi zur Arbeit gefahren und hatte dort Kontakt mit ihren Arbeitskolleg*innen.

Anschließend verbrachte Ribbeheger den Tag mit verschiedenen Aktivitäten, wie Einkaufen, Freunde treffen und mit Dingen, die junge Leute eben so machen. Das fällt jetzt alles weg. Dabei war für die nächsten Wochen einiges geplant, Treffen mit Freunden, Geburtstagsfeiern oder der Besuch der lokalen Kirmes. Vor einigen Wochen hätte sie sich nicht träumen lassen, dass ein Virus sie so massiv einschränken werde.

Angst vor der anhaltenden Isolation - Die Schriftstellerin Susanne Konrad kämpft für sich und ihren Mann.

100-prozentige Sicherheit gibt es nicht. Susanne Konrad weiß das. Sie lebt mit ihrer 17-jährigen Tochter und ihrem Mann in einem Sechs-Parteien-Haus, in zwei Wohnungen. Konrads Mann ist 72, hat gerade eine Operation hinter sich und zudem mehrere Vorerkrankungen. Es geht ihm im Moment gut, aber er darf sich unter keinen Umständen mit dem Virus anstecken. Daher dürfen es Konrad und ihre Tochter auch nicht. Die 17-Jährige unterstützt ihre Mutter, so gut es eben geht, aber sie muss auch sehr vorsichtig sein. Ein junger Helfer von den Frankfurter Jusos kauft für die Familie ein. Ein bisschen Sprudelwasser und Milch haben sie »gehamstert«, aber für die frischen Dinge braucht es Unterstützung.

Das Bedrückende an der Situation ist, dass kein Ende in Sicht ist. Niemand kann und möchte sich auf ewig in der eigenen Wohnung einbunkern. Die meisten Menschen bleiben momentan bis zur erwarteten fallenden Ansteckungskurve zu Hause. Für Familie Konrad ist aber völlig unklar, wie lange die Isolation anhält. Kann es gelingen, jemanden über ein Jahr zu schützen, bis eventuell ein Impfstoff existiert? Susanne Konrad hat große Angst davor, es nicht zu schaffen.

Manchmal arbeitet die Schriftstellerin ganz normal im Homeoffice. Am bekannten Schreibtisch hat sie dann fast das Gefühl, das Leben wäre noch normal. Bis sich die Angst wieder einschleicht. Für Konrad geht es um Leben und Tod, sie möchte ihren Mann nicht auf einer Intensivstation mit Atemnot um sein Leben ringen sehen.

Das Nötigste ist vergriffen - Olaf Steinke klagt über die mangelhafte Versorgung

Durch eine Muskelerkrankung ist Olaf Steinkes Immunsystem grundlegend geschwächt. Dazu kommen mehrere Krankenhausaufenthalte in letzter Zeit, die die Gefährdungslage durch das Coronavirus verschärft haben. Steinke arbeitet in Vollzeit und hat zum Glück die Möglichkeit für Heimarbeit. Er hat sich selbst eine Ausgangssperre auferlegt, weil das Risiko einer Infektion zu hoch ist. Damit fallen viele aus medizinischer Sicht wichtige Termine weg.

Durch die Hamsterkäufe bekommt Steinke verschiedene für ihn notwendige Pflegehilfsmittel nicht mehr. Die Lieferungen von Einmalhandschuhen, Bettschutzeinlagen oder Desinfektionsmittel sind reglementiert, sodass Steinke sich keinen Vorrat anlegen konnte.

Nun verfügen auch Arztpraxen und Krankenhäuser kaum mehr über diese Materialien. Und in Verkaufsportalen werden horrende Preise verlangt. Andere Pflegehilfsmittel werden ausschließlich durch Paketdienstleister versendet. Falls diese nicht mehr tätig sein sollten, würde dies für Steinke schnell lebensbedrohlich.

Risikogruppe mit sechs Kindern - Ella Schönefeldt braucht gute Nerven

Aufgrund einer chronischen Krankheit und der Einnahme von Immunsuppressiva gehört Ella Schönefeldt zur sogenannten Risikogruppe. Mit sechs Kindern und als Lehrerin lassen sich soziale Kontakte aber kaum vermeiden, höchstens verringern.

Auch muss eine achtköpfige Familie einiges essen. Aufgrund der Hamsterkäufe anderer Menschen müssen sie zunehmend andere Geschäfte aufsuchen. Und dann muss natürlich auch dem Bewegungsdrang der Kinder Rechnung getragen werden.

Das alles erfordert gute Nerven und viel Organisation. Die gelingt nicht überall. Als Lehrerin findet Schönefeldt , dass Schulen und Lehrkräfte auf die Situation schlecht vorbereitet wurden. Viele Fragen bleiben unbeantwortet. Eine Ausgangssperre und die Betreuung der Kinder zu Hause über Wochen sieht Schönefeldt gerade im Hinblick auf häusliche Gewalt, sexuellen Missbrauch und psychische Erkrankungen mit großer Sorge.

Schönefeldt tut sich auch schwer damit, wenn von manchen der Eindruck erweckt wird, wer noch auf die Straße gehe, spiele mit dem Leben von chronisch kranken Menschen. Das gelte sicher für Coronapartys und ähnlichen Unsinn, aber nicht für jeden, der sich in der Öffentlichkeit zeigt.

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