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Zivilgesellschaft organisiert sich
Eine Konferenz der Linksfraktion war stark besucht, viele Aktive diskutierten und vernetzten sich
Der Andrang war groß zur Konferenz der Linken »(Selbst-)Verteidigung der Zivilgesellschaft«. Kurzfristig musste ein größerer Saal im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus organisiert werden. Nach gut 300 eingegangenen Anmeldungen musste die Registrierung geschlossen werden. Das Publikum war bunt gemischt – in Kufiya gehüllte, tätowierte Bewegungs-Mittzwanziger trafen auf altlinke Rentner*innen. Dazu Aktive aus der kurdischen, der Informationsfreiheits- und der Klimaschutzbewegung. Ein Großteil der Anwesenden ist selbst in der Zivilgesellschaft aktiv, ob beruflich in NGOs oder privat. Die Partei hat sichtlich einen Nerv getroffen in diesem Land.
Dabei erwiesen sich gerade Gespräche und Vernetzung der Teilnehmer*innen untereinander als sehr wertvoll. Eine Aktivistin Ende 40 aus Brandenburg erzählte von ihren Kämpfen in der Eingliederungshilfe. Von der Konferenz erhoffe sie sich Hilfe. Der Bürgermeister habe ihr gedroht, ihrer Organisation die Gelder zu entziehen, sollte sie sich an einer kritischen Demonstration bezüglich der Sozialkürzungen vor Ort beteiligen. »Die nächste Wahl – da habe ich Angst vor!« Sie selbst will daher anonym bleiben, zu groß ist die Furcht vor Vergeltung und Repressalien – eine Bitte, die von fast allen Teilnehmenden geäußert wird. Es herrscht Furcht vor Entlassung, staatlicher Repression, Gängelei durch lokale Amtsträger*innen, Denunziation beim Finanzamt. Selbst manche der Referent*innen in den Workshops möchten nicht namentlich in der Presse erscheinen. Die Partei hat in Zeiten der autoritären Wende einen Raum geschaffen, der dringend notwendig war.
»Ich kann meinem Vater einfach nicht verbieten zu demonstrieren.«
»Yousef« Palästinenser aus Neukölln
So auch bei Yousef, der eigentlich anders heißt, Ende 20, Palästinenser aus Neukölln. Mehrfach war er Zeuge erschütternder Polizeigewalt und Willkür auf palästinasolidarischen Demonstrationen. Er ist weder Parteimitglied noch sonst irgendwo organisiert – heute sei er das erste Mal bei so einem Treffen. Motiviert habe ihn der Wahlkampf Ferat Koçaks in Neukölln: »Wenn Ferat nicht wäre, wäre ich auch nicht wählen gegangen.«
Sein Drang, etwas zu verändern, ist gespeist aus seiner Sorge um seinen Vater: »Mein Vater ist über 80 Jahre alt und geht immer auf die Demonstrationen für Palästina, aber durch die Repression habe ich wirklich Angst, dass er etwas abbekommt. Aber ich kann meinem Vater einfach nicht verbieten zu demonstrieren. Er ist 1940 in Palästina geboren, das Thema ist tief in seinem Herzen. Ich habe gemerkt, dass ich öfters derjenige war, der ihm vom Demonstrieren abgeraten hat. Ich fühle mich schlecht deswegen, und es ist ein Armutszeugnis für Deutschland, dass ich zwischen der Sicherheit meines Vaters und dem Recht zu demonstrieren wählen muss.« Yousef gehe selbst auch seltener zu Demonstrationen, er fürchtet, womöglich verhaftet zu werden; sein Aussehen passe genau ins Beuteschema der Polizei. Er arbeitete in einer Flüchtlingsunterkunft, engagierte sich im Betriebsrat. Dann stoppte Berlin die Zahlungen an seinen Träger – Massenentlassungen waren die Folge, so auch für Yousef.
Die Konferenz begann mit einer Rede von Heidi Reichinnek. Sie wünschte, es brauche diese Konferenz nicht, doch leider müsse man abermals Abwehrkämpfe führen, um das wenige zu verteidigen, was man hat. Als Startschuss einer neuen Welle der autoritären Angriffe gegen die Zivilgesellschaft gilt die Anfrage der CDU zur Finanzierung von NGOs in Deutschland. Zeitgleich zur Konferenz eskalierte auf der anderen Seite des Bundestages der Skandal um die Verfassungsrichterinnenwahl – rechte Hetzer aus AfD und CDU verbreiten unisono rechtsradikale Propaganda. Reichinnek erklärte: »Wir müssen die rote Haltelinie sein, um die Unterwanderung der Demokratie durch Rechtsradikale zu verhindern. Und wenn diese Haltelinie auch gegen die CDU verlaufen muss, dann ist das so.«
Vor den Workshops hielt Julia Duchrow, Generalsekretärin der deutschen Sektion Amnesty International, eine mitreißende Rede zur Lage der Zivilgesellschaft im Land. Diese werde angegriffen, indem NGOs als staatsfinanzierte Elite delegitimiert würden, die dem Volk eine andere Meinung aufdrücke – NGOs als »Deep State« und Gefahr für die Demokratie. Besonders die AfD lege gezielt Beschwerden bei lokalen Finanzämtern gegenüber NGOs ein, um diesen – bis zu zehn Jahre rückwirkend – die Gemeinnützigkeit zu entziehen. Gerade die Palästina-Solidarität und Klimabewegung seien in Deutschland von verheerender Repression betroffen. Im Kontext der Debatte um Antisemitismusdefinitionen dankte Duchrow daher explizit der Linken zum Bundesparteitagsbeschluss zur Annahme der Antisemitismusdefinition der Jerusalemer Erklärung. Die Jerusalemer Erklärung ist eine Reaktion auf die sehr weit gefasste IHRA-Antisemitismusdefinition, die vor allem von westlichen Regierungen benutzt wird um Kritik an Israel als antisemitisch zu delegitimieren.
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In vier parallelen Workshops wurden auf der Konferenz konkrete Themen vertieft: die autoritäre Asylwende, der erschwerte Zugang zu Informationen, finanzielle und juristische Repression gegen zivilgesellschaftliche Organisationen und gemeinsame Strategien gegen staatliche Einschüchterung. Forderungen aus den Workshops umfassten ein neues Bundestransparenzgesetz, eine Reform des Gemeinnützigkeitsrechts, ein starkes Demokratiefördergesetz und die Notwendigkeit, sich als Akteure der Zivilgesellschaft nicht spalten zu lassen. Man wolle als organisierte Zivilgesellschaft weiterhin in Kontakt bleiben.
Am Ende der Konferenz kam eine Teilnehmerin auf die Aktivistin aus Brandenburg zu. Sie kenne lokale Gruppen, die ihr helfen können. Diese Unterhaltung steht sinnbildlich für den großen Nutzen dieser Konferenz – die Vernetzung der Betroffenen. Es ist von großem Wert, dass sich mehrere Hundert Aktive aus unterschiedlichen Gruppen und NGOs an diesem Tag unter dem organisatorischen Mantel der Linken zusammengefunden haben. Bleibt nur zu hoffen, dass aus dieser Keimzelle eine Einheitsfront wider den autoritären Wandel in diesem Land erwächst, ganz im Sinne des neuen Slogans der Linken: Niemals alleine – immer gemeinsam!
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