Coronabehandlung: Werden Menschen mit Behinderung aussortiert?

Katrin Langensiepen kritisiert klinisch-ethische Handlungsempfehlungen für die Coronakrise als behindertenfeindlich

  • Fabian Hillebrand
  • Lesedauer: 4 Min.

In Deutschland gibt es seit Kurzem eine Diskussion, die wie aus einem Schullehrbuch für Ethik daherkommt: Wenn wir in die fürchterliche Situation geraten, dass weniger Beatmungsgeräte als Menschen vorhanden sind, wer bekommt dann die rettenden Geräte? Sechs medizinische Fachgesellschaften und die Akademie für Ethik in der Medizin haben nun Empfehlungen ausgearbeitet, um in Deutschland dafür Kriterien festzulegen. Sie kritisieren diese. Warum?

Bei der Bewertung der Erfolgsaussichten einer Behandlung wird unter anderem auch »Gebrechlichkeit« als Indikator aufgezählt. Hier haben wir ein Problem. Denn viele Menschen mit Behinderung sind von Natur aus gebrechlicher als andere. Für sie bedeutet das eine pauschale Abwertung und geringe Chance auf eine Behandlung. Auch ältere Menschen sind natürlich gebrechlicher als jüngere. Das ist indirekte Diskriminierung und ein klarer Verstoß gegen Menschenrecht. Gebrechlichkeit darf kein Kriterium für eine Nichtbehandlung sein.

Im Interview

Katrin Langensiepen nennt sich selbst gerne mal eine »Luxusbehinderte«. Ihr fehlen die Speichen in den Unterarmen, was besonders dann nervig ist, wenn der Brötchenkorb im angeblich behindertenfreundlichen Hotel mal wieder zu hoch hängt.

2019 zog Langensiepen als erste Frau mit einer sichtbaren Behinderung ins Europaparlament ein. Sie ist 40 Jahre alt und kommt aus der Region Hannover.

Solche Leitlinien, wie sie dort verhandelt wurden, versetzten viele Menschen mit Behinderung in meinem Umkreis in Angst und Schrecken. Es macht Angst, zu wissen: Am Ende des Tages könnte ein Mediziner sich aufgrund einer Gebrechlichkeitsskala, die eine Frage stellen: Lohnt es sich in deinem besonderen Fall, dass wir dich weiterhin beatmen? Denn du bist ja eh »krank«. Solche Bewertungen darüber, wer leben darf und wer nicht, da denke ich gleich an die Zeit von 1933 bis 1945.

Was steht denn noch konkret in den Leitlinien?

Es geht um Gebrechlichkeit und Komorbiditäten als Faktoren, außerdem »weit fortgeschrittene generalisierte neurologische oder neuromuskuläre Erkrankungen«. Das könnte ganz verschiedene Menschen betreffen. Menschen mit neurologischen Erkrankungen wie Multipler Sklerose oder Amyotrophe Lateralsklerose. Menschen mit Glasknochen oder Menschen, die zum Schlafen ein Beatmungsgerät brauchen. Ich habe Angst, dass die Mediziner aufgrund solcher Leitlinien nicht mehr den Fall des einzelnen Menschen prüfen, sondern anhand von irgendeiner Gebrechlichkeitsskala über deren Schicksal entscheiden.

Gibt es denn irgendeine Berechtigung für solche Leitlinien? In anderen europäischen Ländern – wie Spanien und Italien – wird die Triage (aus dem Französischen: »trier«: sortieren, aussuchen) von Patienten bereits praktiziert. In Italien wird beispielsweise die Lebenszeiterwartung nach überstandener Krankheit, in der Schweiz die Erfolgswahrscheinlichkeit der Behandlung (Schweiz) als Kriterien zur Auswahl herangezogen.

Nein. Leitlinien, die Gebrechlichkeit und Lebenserwartung als Kriterium zur Nichtbehandlung festlegen, verstoßen klar gegen den Gleichheitsgrundsatz der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und der UN-Behindertenrechtskonvention, zu denen sich die Europäische Union und all ihre Mitgliedstaaten verpflichtet haben. Der Staat kann niemals darüber entscheiden, wer leben und wer sterben darf. In Deutschland hat dieser Satz einen ganz besonderen Nachhall.

Es gäbe verschiedene Verfahren, zu ermitteln, wer ein Beatmungsgerät bekommt und wer nicht. Man könnte das Los entscheiden lassen.

Oh Gott! Ich denke nicht, dass dies ein Alternative ist.

Verbietet es sich generell, über solche Fragen nachzudenken?

Aus meiner Sicht, ja! Es ist ein bisschen wie bei den Physikern von Dürrenmatt: »Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden.« Wir erleben eine Krise, aber mir wird die Frage, was lebenswertes Leben ist und was nicht, zu schnell aus der Schublade gekramt. Das ist ein Gedankengang, der sich vielleicht erstmal anfühlt wie Trockenschwimmen ohne Konsequenzen. Denn gerade stellt sich die Frage nach den Beatmungsgeräten in Deutschland noch nicht. Diese Überlegungen sind aber brandgefährlich, weil sie eine mögliche Grausamkeit legitimieren.

Sie haben aufgrund einer Behinderung ein höheres Risiko, an Covid-19 zu erkranken. Wie schützen sie sich?

Das ist ein hammerharter Virus, es gibt zahlreiche Menschen, die daran sterben. Die Lage in Italien ist schrecklich. Bisher walte ich da mit Vorsicht und habe mich eingesperrt.

Sie isolieren sich als Teil der Risikogruppe?

Ja, aber freiwillig. Wir Menschen mit Behinderungen sind sehr geübt darin, auf uns selber aufzupassen. Dass jetzt diskutiert wird, ob man gesetzliche Ausgangsbeschränkungen für Menschen mit einem erhöhtem Risiko erlässt, ist ebenfalls eine Anmaßung. Die Starken und Jungen sollen arbeiten gehen, die Alten und Kranken bleiben zuhause: Was wäre das für eine Gesellschaft. Und überhaupt: Wer entscheidet denn dann bitte, wer zu dieser Risikogruppe gehört? Der Staat, die Polizei? Ein Mensch mit einer Erkrankung oder auch ältere Menschen haben natürlich auch immer noch ein Recht auf Bewegungsfreiheit. Ich bin jetzt selber seit vier Wochen in Selbstquarantäne. Das mache ich zum Schutz von mir und auch, um andere zu schützen. Ich lebe jetzt seit 40 Jahren mit meiner Krankheit, bin dem Tod schon früh von der Schippe gesprungen. Glauben Sie mir, ich weiß am besten, was ich brauche.

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