Wiedererkämpftes Recht

Das Bundesverfassungsgericht hob ein Versammlungsverbot auf. So konnte in Gießen doch noch für die Rechte Geflüchteter demonstriert werden

  • Ingrid Wenzl, Gießen
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Sonne meinte es gut mit den etwa 50 Aktiven, die sich vergangenen Freitag mit gehörigem Sicherheitsabstand zueinander und mit Mund-Nase-Schutz vor dem Gießener Rathaus versammelt hatten. Sie waren gekommen, um ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 16. April zu feiern. Es hatte das Verbot einer Demonstration unter dem Motto »Gesundheit stärken statt Grundrechte schwächen - Schutz vor Viren, nicht vor Menschen« durch die hessische Stadt als unzulässigen Eingriff in das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit gewertet (siehe »nd« vom 17.4.). Damit widersprachen die Karlsruher Richter auch den Entscheidungen von zwei Vorinstanzen.

Das Gericht räumte der Stadt allerdings die Möglichkeit ein, Auflagen zu erlassen. Daraufhin begrenzte die Verwaltung die Dauer der Veranstaltung auf eine Stunde und die Teilnehmerzahl auf 15. Doch auch diese Entscheidung wurde kassiert, sodass am Freitag 50 Menschen vier Stunden lang demonstrieren durften.

»Es kann nicht sein, dass die Bundesregierung die Coronakrise nutzt, um einen autoritären Staat aufzubauen, den Klimaschutz herunterzufahren und die Grenzen dichtzumachen«, kritisierte der Gießener Aktivist Jörg Bergstedt. Schutz vor dem neuartigen Coronavirus müsse es für alle geben, auch für Obdachlose und die Menschen an den EU-Außengrenzen, forderte er auf der Kundgebung.

Aus der Karlsruher Entscheidung dürften generell wieder mehr Möglichkeiten erwachsen, Themen in die Öffentlichkeit zu bringen, die in der Coronakrise sonst unter den Teppich gekehrt werden. In Gießen hielten sich alle Demo-Teilnehmer*innen an die Hygienevorschriften. Redebeiträge wurden über das eigene Mobiltelefon auf eine Lautsprecheranlage übertragen, Interviews aus zwei Metern Entfernung geführt. Bürgermeister Peter Neidel (CDU), der angesichts des Karlsruher Beschlusses auf einmal von »einem Erfolg der Demokratie« sprach, trat derweil ohne Mundschutz vor die Kameras.

Lob bekamen die Gießener Kläger*innen von Dorothea von Ritter-Röhr von den »Omas gegen rechts«, die sich ebenfalls vor dem Rathaus eingefunden hatte. »Omas wegsperren - nicht mit uns!« war auf einem ihrer Schilder zu lesen. »Großartig, dass diese jungen Leute es geschafft haben, das Versammlungsverbot zu kippen«, freute sich die Gießener Psychotherapeutin und Feministin. Freie Meinungsäußerung sei gerade heute enorm wichtig.

Bergstedt forderte, nach der aktuellen Krise dürfe es keine Rückkehr zum »Normalzustand« davor geben. Zentrale Verbesserungen müsse es bei den Arbeitsbedingungen, in den Sozialsystemen und im Klimaschutz geben; die Privatisierung des Gesundheitssektors müsse revidiert werden. Den Aktivisten ärgert auch die Doppelmoral bei den weitreichenden Einschränkungen: »Derzeit wird die halbe Welt angehalten, gleichzeitig geht die Politik nur zaghaft gegen die Autolobby vor. Dabei sterben wegen der vom Individualverkehr verursachten Luftverschmutzung und bei Unfällen jedes Jahr Tausende vorzeitig.« Noch stärker zeige sich auf globaler Ebene, wie unterschiedlich viel ein Leben wert sei.

Ruben Gradl von der Gießener Initiative Verkehrswende, der an der Beschwerde in Karlsruhe beteiligt war, betonte: »Wir haben die Versammlungsfreiheit wiedererkämpft! Der Beschluss kann nun bundesweit genutzt werden, um wieder auf die Straße zu gehen.«

Das oberste Verfassungsgericht kam unterdessen am Samstag auch dem Anmelder einer Demonstration gegen die Grundrechtseinschränkungen in der Coronakrise in Stuttgart zu Hilfe. Nachdem Karlsruhe seinem Eilantrag gegen ein von der Stadt verfügtes Verbot stattgegeben hatte, kamen am selben Tag in Baden-Württembergs Landeshauptstadt rund 50 Menschen zu einer Kundgebung zusammen. Nach dem Karlsruher Beschluss teilte die zuständige Behörde mit, die Versammlung könne bei Beachtung von Mindestabständen zwischen den Teilnehmer*innen stattfinden. Der Kläger war zuvor mit Eilanträgen bei den Verwaltungsgerichten gescheitert.

Bereits am Karsamstag hatte das Verwaltungsgericht Schwerin zwei zuvor durch die Stadt verbotene Demonstrationen unter der Einhaltung von Auflagen erlaubt. So durften am Ostermontag knapp 40 Menschen mit Sicherheitsabstand eine Kundgebung unter dem Motto »71 Jahre Grundgesetz - 60 Jahre Ostermarsch - 2 Monate Corona« abhalten. Ebenfalls unter Auflagen demonstrierten einen Tag später 18 Mitglieder der Initiative Pro Bleiberecht vor dem Innenministerium von Mecklenburg-Vorpommern und übergaben dort eine Petition mit 1500 Unterschriften, in der die Schließung der Erstaufnahmeeinrichtungen des Landes für Geflüchtete gefordert wird. Die Menschen dort seien durch die räumliche Enge mangelhaft vor einer Infektion mit Sars-CoV-2 geschützt. Auch diese Aktiven hatten ihr Demonstrationsrecht vor dem Verwaltungsgericht erstritten.

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