Russlands Angst vor der zweiten Welle

In den Medien und Politik wird heftig um die Deutungshoheit in der Covid-Krise gestritten

  • Samuel Rebel, Moskau
  • Lesedauer: 5 Min.

Die Anzahl der Neu-Infizierungen in Russland schlagen traurige Rekorde und erreichte mit Beginn der Mai-Feiertage -Maijskiye prazdniki - die Schmerzensgrenze von zehntausend Fällen am Tag, davon über die Hälfte in Moskau. Die Hoffnung auf eine Stabilisierung der Zahlen schwindet, trotz Sommerwärme in den meisten Großstädten. Die Behörden erklären das anhaltende Plus und Tempo der Infizierungen auch mit der ständig steigenden Anzahl durchgeführter Covid19-Tests (mit zirka vier Millionen gleich nach USA an der Weltspitze), sowie einer neuen, schnelleren Methodik der Tests. Inzwischen ist die Pandemie leider in allen Regionen angekommen.

Die Mediziner reden zunehmend besorgt bereits von der zweiten Welle. In den Metropolen werden Reserve-Kapazitäten für die Nachbehandlung akuter Fälle in großem Stil bereitgestellt. Allein in Moskau geht es um zehntausend zusätzlicher Covid-Betten, mobile Spitale können bei Bedarf in großen Autohäusern und Stadien eröffnet werden, beispielsweise sind das Lenexpo-Gelände in St.Petersburg und die Moskauer VDNCh-Ausstellung bereits einsatzfähig. Auch in Russland hatten neoliberale Reformen und Privatisierungen im Gesundheitswesen zur Schwächung des öffentlichen Gesundheitssystems geführt. Ausstattungsmängel, Personal- und Lieferengpässe in staatlichen Kliniken und Apotheken haben mit Beginn der Pandemie selbst in Moskau zu erheblichen Versorgungs- und Behandlungsproblemen geführt.

Sechs Ansprachen in zwei Monaten

In den Medien und Politik wird heftig um die Deutungshoheit in der Covid-Krise gestritten. In Moskau gilt seit dem 20. April die digitale Antrags- und Genehmigungspflicht für jedes Verlassen der Wohnung, für PKW-und ÖPNV-Nutzung. Dabei kommt die vorhandene digitale Infrastruktur voll zum Einsatz. Der »Corona-Flügel«, Notstandsanhänger in verschiedenen Parteien, setzt auf kriegsähnliche Rhetorik, verstärkte Kontrollen und erhebliche Strafen für die Bevölkerung, während die Gemäßigten über Strategien des Exits, Rettung und Belebung der Wirtschaft reden. Derzeitige Taktik des Kreml: Kompromiss und kollektive Therapie.

Präsident Wladimir Putin wandte sich im März und April im Kontext des Coronavirus sechs Mal mit Ansprachen an die Bürger*innen. Das ist mehr als in den sechzehn Jahren der Präsidentschaft zuvor. Bisher hatte es nur vier Notstandsansprachen gegeben: 2002 und 2004 nach Terroranschlägen in Dubrowka und Beslan, 2007 – nach dem Tod von Jelzin sowie 2016 – an französischen Präsidenten Hollande nach dem Nizza-Anschlag.

Warum auch deutsche Medien sticheln, Putin würde angeblich den Regional-Chefs die unangenehme Arbeit und unpopuläre Botschaften überlassen, ist hierzulande nicht nachvollziehbar. Solange in Russland weder »Ausnahme-Situation« noch »Ausnahmezustand« ausgerufen wurden, liegen nach Verfassung und Recht alle Kompetenzen und Regelungen im Rahmen des »Zustandes der erhöhten Bereitschaft« bei den föderalen Subjekten - Republiken, Großstädten, Gebieten oder Regionen, abhängig von der jeweiligen Lage dort.

Home-Office und lange Feiertage

Moskaus Behörden verlängerten den Lockdown auf nunmehr 45 Tage, über die Mai-Feiertage hinweg, wobei bestimmte relevante Wirtschaftszweige weiter arbeiten. Das verordnete Isolationsregime wird durch die Bevölkerung laut einer Telegram- und Viber-Umfrage des Portals »stopkoronavirus.ru« weitgehend zu Hause (57 bis 63 Prozent) oder auf Datschen (26 bis 38 Prozent) praktiziert. Nur 4 bis 7 Prozent der Befragten planen Picknicks im Freundeskreis sowie 1 bis 4 Prozent Beisammensein mit Besuch. Die Verkehrspolizei verspricht Massenkontrollen und »Mausefallen« an Ausfahrtstraßen sowie mit Alkoholtests, wie bereits am 1. Mai an der populären Datschen-Ausfahrt Richtung Jaroslawl, mit stundenlangen Verzögerungen für Privatfahrer.

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Das Datschen-Phänomen könnte in der Abwehr der bedrohlichen »sozialen Hypoxie« eine wichtige Funktion darstellen. Kritik am staatlichen Krisenmanagement und wachsender Druck der öffentlichen Meinung aufgrund realer wirtschaftlicher und sozialer Nöte ist auch in TV-Talkshows, Blogs und Social Media nicht mehr zu überhören.

Auch Premier Mischustin erkrankt

Die Nachricht von der Infizierung des Premiers Michail Mischustin befeuert den Machtkampf um die Dominanz in der Virusagenda. Mit ihm verlieren die Gemäßigten auf föderaler Ebene eine wichtige und vernehmbare Stimme. Als starker Mann der Notstands-Anhänger fungiert der Moskauer Oberbürgermeister Sergei Sobjanin, Möchtegern-Vizepräsident oder -Premier. Über die ihm nahestehenden Medien »Echo Moskvy« und »Meduza.io« werden Gerüchte verbreitet, Mischustin würde nicht ins Amt zurückkehren. Dessen Nominierung zum Premier vor 100 Tagen sei für andere Aufgaben in der Vor-Corona-Zeit erfolgt. Sobjanins Medienwirksamkeit wird durch die Schützenhilfe prominenter Covid-Bekämpfer, wie Denis Prozenko, Chefarzt der Spezial-Klinik »Kommunarka«, der sich auch infiziert hatte, und den Arzt und TV-Showmaster Alexandr Mjasnikov gestärkt.

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Putins Auftrag an Mischustin - kurz vor dessen Selbstisolierung – lautete, bis zum 5.Mai einen Exit-Plan für die Wirtschaft mit klar konturierten Schritten vorzulegen. Dieser verhallte, er wurde durch verstärkte Durchhalteparolen und Lockdown-Entscheidungen für die Moskauer Region in den Hintergrund gedrängt. Der Kreml seinerseits dementiert die Schwächung Mischustins. Als geschäftsführender Premier wurde der Erste Vize Andrej Beloussow berufen, langjähriger Wirtschaftsberater Putins und ausgewiesener Keynesianer. Er plädiert für mehr Staat und Beschneidung privater Akteure durch eine Gewinnabgabe sowie sozialstaatliches Management und die Förderung von kleinen und mittleren Unternehmen. Nebenbei bemerkt: Beloussov ist Absolvent der Staatlichen Moskauer Lomonossow-Uni und damaliger Kommilitone von Professor Alexandr Buzgalin, der dort wieder einen Lehrstuhl für Marxistische Forschungen etablieren konnte.

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