Auf der Suche nach Mehrheiten

Europas Konservative im Richtungsstreit

  • Cornelia Hildebrandt
  • Lesedauer: 8 Min.

Die Europäische Union steht angesichts der aktuellen Herausforderungen an einem Scheideweg. Ob sie sich als Verbund starker Nationalstaaten zu einer neuartigen Freihandelszone entwickelt oder zukünftig als eigenständiger Akteur in globale Auseinandersetzungen eingreift, wird auch von den konservativen Kräften abhängen, die die politisch einflussreichste Kraft in der EU sind.

Die Konservativen stellen in den drei zentralen EU-Institutionen jeweils die relative Mehrheit: im Europäischen Rat sind sie mit mehr als 10 Staats- bzw. Regierungschefs vertreten; zehn Mitglieder der EU-Kommission, einschließlich der Kommissionspräsidentin und der zentralen Resorts Wirtschaft, Handel, Verkehr und Binnenmarkt, die in Abstimmung mit dem EU-Rat richtungweisend strategische Vorhaben vorantreiben können, kommen aus dieser Parteienfamilie. Im Europäischen Parlament verteilen sich die Konservativen auf zwei Fraktionen: die Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP), die christlich-demokratische, bürgerlich-konservative bis hin zu nationalkonservativen Parteien in sich vereint, und die 2009 unter Führung der britischen Konservativen und der polnischen nationalkonservativen Partei »Recht und Gerechtigkeit« (PiS) ins Leben gerufene Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR). In ihr sind nationalkonservative, EU-skeptische und zum Teil rechtspopulistische Parteien. Zu den stärksten Parteien der EVP gehören die deutsche CDU/CSU mit 23 Abgeordneten, die polnische Bürgerplattform (PO) mit 14 Abgeordneten und mit je 12 Abgeordneten die spanische Volkspartei (PP) sowie die ungarische FIDESZ. In der EKR nimmt die polnische PiS mit 26 Abgeordneten eine dominierende Stellung ein. Mit Abstand dahinter stellen die erst vor geraumer Zeit gegründeten italienischen und spanischen rechtsextremen Parteien Fratelli d’Italia und VOX die nächst größeren Delegationen innerhalb der EKR.

Cornelia Hildebrandt

Cornelia Hildebrandt, Diplom- Philosophin, ist wissenschaftliche Referentin für Parteien und soziale Bewegungen im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung und stellvertretende Direktorin des Institutes; sie ist zugleich Vorstandsmitglied der Stiftung der Europäischen Linkspartei (EL) »transform! europe«. Der hier veröffentlichte Text erschien auch im Mai-Heft des außenpolitischen Journals "Welttrends", das einen Themenschwerpunkt zur EU-Politik enthält (welttrends.de).

Foto: privat

Die Wahlen zum EU-Parlament 1999 machten die EVP-Fraktion erstmals zur stärksten Fraktion. Sie errang damals 37 Prozent der Mandate und stellte 295 Abgeordnete. Nach dem Brexit und der Neuverteilung der freigewordenen Sitze verfügt die Fraktion der EVP über 182 Abgeordneten. Die zweite konservative Fraktion, die euroskeptischen Nationalkonservativen der EKR, vereinigt nur noch 62 Abgeordnete und ist damit die zweitkleinste Fraktion im EP.

Diese Entwicklung hat einen unmittelbaren Einfluss auf mögliche Mehrheitsverhältnisse. Erstmalig erreichten bei den Wahlen 2019 die beiden großen Fraktionen, die Konservativen der EVP und die Sozialdemokraten der S&D - die stark von den jeweils deutschen Mitgliedsparteien, der CDU/CSU und der SPD geprägt werden - deutlich weniger als 50 Prozent der Abgeordneten und können somit nicht mehr wie bisher als informelle »große Koalition« agieren. Beide Fraktionen haben im Vergleich zu den Wahlen von 2014 knapp 20 Prozent ihrer Abgeordneten verloren. Bei den Konservativen der EVP liegt dieser Wert im Vergleich zu 2009 sogar über 30 Prozent. Die Einbrüche der EVP vollzogen sich EU-weit, gehen in ihrer Dimension aber ursächlich auf Veränderungen der Parteienlandschaften in den Mitgliedstaaten Frankreich, Deutschland, Italien, Spanien und Polen zurück. Diese Verluste können in Entscheidungsprozessen des Parlaments auch nicht mehr - wie in der Vergangenheit oft praktiziert - von den euroskeptischen Nationalkonservativen der EKR kompensiert werden, da auch sie über die Jahre an Einfluss verloren hat. Der Anteil der rechts von der EKR stehenden nationalistischen und antieuropäischen Parteien hat sich mehr als verdoppelt. Dieses Wachstum geht auch auf Umgruppierungen zwischen den Fraktionen zurück. So haben Abgeordnete von Parteien wie der Dänischen Volkspartei, der deutschen AfD als auch der Wahren Finnen ihren bisherigen »Unterschlupf« bei der EKR aufgegeben und bilden seit 2019 eine deutlich gestärkte rechtsextreme Fraktion nunmehr unter dem Namen »Identität und Demokratie« (ID).

Damit ist die aktuelle Kräftekonstellation im Europäischen Parlament von drei Tendenzen geprägt: Erstens verfügt die konservativen EVP zusammen mit ihrem langjährigen Partner, den Sozialdemokraten, über keine eigene parlamentarische Mehrheit; zweitens üben die in ihrem Gewicht gestärkten beiden pro-europäischen Parteifamilien der Liberalen und der Grünen einen starken Druck in Richtung einer Vertiefung der Integration in der EU und drittens haben im Parlament die nationalistischen, antidemokratischen und antieuropäischen Parteien deutlich an Einfluss gewonnen.

Vor diesem Hintergrund lassen sich drei Szenarien zur Weiterentwicklung der EU aufzeigen: Erstens ein modifiziertes »Weiter so« mit deutlichen Rechtsverschiebungen insbesondere in der Migrations- und Flüchtlings- sowie in der Sicherheitspolitik, zweitens die Entwicklung zur Freihandelszone starker Nationalstaaten oder drittens Vertiefung zu einem wirtschaftlich, politisch und militärisch eigenständig Akteur.

Wenn die Konservativen und die Sozialdemokraten ihre bisherige Prämisse, nicht mit der nationalistisch-rechtsextremen ID-Fraktion zu kooperieren, Bestand haben, ergibt sich als Konsequenz, dass sie auch nicht mit den ihnen näherstehenden Parteifamilien eine Mehrheit bilden können. Konkret: Es reicht weder für eine konservativ-liberal-grüne Mehrheit noch für ein konservativ rechtsliberales-nationalkonservatives-nationalistisches Bündnis. Die Konservativen sind nur in einem Bündnis mit den Sozialdemokraten und einer weiteren Parteienfamilie mehrheitsfähig.

Parallel zu den Verschiebungen der Kräfte zwischen den Fraktionen verstärken sich die Auseinandersetzungen innerhalb dieser. So stehen die liberalen Konservativen, die wie die Luxemburger Konservativen eine Vertiefung der EU im Sinne der wirtschaftsliberalen Ideen Macrons befürworten, denjenigen Konservativen gegenüber, die wie die CDU in Deutschland eine weitere Vergemeinschaftung der Finanz- und Wirtschaftspolitiken, der Asyl- und Flüchtlingspolitik und vor allem eine Sozialkonvergenz für die EU-Länder ablehnen. Jedoch unterstützen sie im Unterschied seine Vorschläge für eine europäische Armee. Das gilt auch für die Nationalkonservativen der EKR, die wie die polnische PiS, einerseits an der nationalen Souveränität ihrer Staaten festhalten und grundsätzlich der Erweiterung von EU-Gemeinschaftspolitiken skeptisch gegenüberstehen, andererseits jedoch die Bildung einer europäischen Armee bejahen, solange diese nicht in Konkurrenz zur NATO steht.

Diese konkrete Konfliktlinie macht deutlich: der jeweilige Blick auf die Rolle der EU, auf internationale Entwicklungen oder auf globale Akteure wie die USA, China, Russland ist in starkem Maße auch von Faktoren wie der nationalen Geschichte, ihrer Größe und geographischen Lage, ihrer politischen und wirtschaftlichen Stellung in der EU geprägt. Einfluss hat auch die Frage nach ihrer Rolle als »Zentralstaat« oder als Land an der EU-Peripherie oder nach dem Status: handelt es sich um ein EU-Geld-Geber- oder ein Nehmerland? Dies verdeutlicht, »Länderinteressen« überlagern immer wieder die Interessen der Parteienfamilien, stehen zum Teil quer zu diesen und befördern oder blockieren eine Europäisierung. Zugleich werden Entscheidungsprozesse durch neuartige zwischenstaatliche EU-interne Zusammenschlüsse zur Bündelung jeweiliger nationaler Interesselagen zusätzlich beeinflusst: So lehnen die Visegrád-Staaten jede europäische Regulierungen der Migration und Flüchtlingspolitik »kollektiv« ab; die »Gruppe der 16«, zu der fünf Balkanstaaten, elf mittelosteuropäischen EU-Länder und neuerdings auch Italien gehören, formulieren eigene Ansätze in der Chinapolitik; die sich als »gute Haushälter« verstehenden Staaten der sogenannten »Hanse-Gruppe« lehnen jede Erhöhung des EU-Haushaltes und eine Lockerung der europäischen Stabilitätsmechanismen sowie eine Vergemeinschaftung der Staatsschulden ab. Die Arenen der Auseinandersetzungen werden komplexer. Die Spaltungslinien innerhalb der EU und ebenso innerhalb der Familie der Konservativen differenzieren aus. Dazu gehört auch, dass sie sich zugleich auch mit den antieuropäischen Nationalisten auseinandersetzen müssen, die eine Zurückdrängung des Einflusses europäischer Institutionen fordern, die EU aktuell zwar nicht mehr abschaffen, von innen heraus aber stark verändern und als abzuschottende Festung gegen Flüchtlinge und Migranten ausbauen wollen.

Damit stehen die Konservativen beider Fraktionen vor einem Dilemma: In zahlreichen Politikbereichen dominieren unter den Konservativen beider Familien unterschiedliche oder gar gegensätzliche Positionen. Das gilt für das Verhältnis zu China, Russland, den USA, zur Militarisierung und Aufbau einer europäischen Armee, zur Haushaltspolitik und Agrarpolitik, zum ökologischen Umbau, einschließlich des Kohle-Ausstiegs, dem Emissionshandels, der Haltung zur Atomenergie und nicht zuletzt zur Aufnahme von Geflüchteten. Das die Konservativen derzeit am stärksten einigende Band ist die Frage der Sicherung der EU-Außengrenzen gegen Flucht und Migration. Wie in der Krise an der türkisch-griechischen Grenze sichtbar, werden Recht, Freiheit und Wohlstand bei der Erreichung dieses Ziels zur Disposition gestellt und − anders als beim Alleingang Deutschlands 2015 − die Menschenrechtspolitik der Sicherheitspolitik klar untergeordnet. Damit verschwimmen in dieser Frage die sonst bestehenden Unterschiede zwischen den Konservativen zu den rechts von ihnen stehenden, zum Teil völkisch-nationalistischen Parteien.

Die Wirkungen eines sich erweiternden, abschottenden Sicherheitsdenkens zu Lasten von Menschenrechts- und Demokratiefragen wirft die Frage nach der demokratischen Verfasstheit der EU und ihrer Mitgliedsländer auf. Aber dies stellt ebenso die fundamentalen konservativen Werte wie Recht und Freiheit, inklusive der Marktfreiheit, und so das konservative Werte-Fundament infrage und treibt die Konservativen an die Seite der rechtsextremen Parteien. Ein solches sich bei den Konservativen abzeichnendes Sicherheitsverständnis kann schwerlich Antworten auf die globalen Herausforderungen geben. Notwendig wäre ein Sicherheitskonzept, auf der Basis dessen sich die EU als eigenständiger und global handelnder Akteur Werte bewahrend und handlungsfähig in globale Auseinandersetzungen auch zur Bewältigung von Klimawandel, sich weltweit ausbreitenden Krankheiten, Migration und Flucht, digitale gesellschaftliche Umbrüche einsetzt und hierfür ein neues Verständnis von Souveränität als nationale und europäische Idee entwickelt.

Die Kräfteverhältnisse im EU-Parlament führen dazu, dass es für die Konservativen notwendig ist, nicht nur auf die Sozialdemokraten, sondern auch auf eine der beiden anderen »pro-europäischen Parteifamilien« zugehen zu müssen. Das könnte den Konservativen die Möglichkeiten einer »wirtschaftsliberalen« Modernisierung eröffnen, die wiederum zur Digitalisierung, zur Stärkung der europäischer Institutionen sowie der Entwicklung neuer Aushandlungsprozesse für qualifizierte Mehrheiten beitragen kann. Das würde auch der Durchsetzung eines »Green Deal« befördern. Das führt zu neuen Formen der Kooperationen mit »wechselnden Mehrheiten« im Europäischen Parlament. Bei all dem haben derzeit die Linksparteien leider keine Funktion.

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