Die Vielfalt der Klone

Das Erbgut von Seegrasablegern ist trotz asexueller Fortpflanzung überraschend heterogen. Die Pflanzen sind wohl anpassungsfähiger als gedacht. Von Ingrid Wenzl

  • Ingrid Wenzl
  • Lesedauer: 3 Min.

Seegraswiesen und Korallenriffe gehören zu den produktivsten, artenreichsten und stabilsten Lebensräumen der Erde. Dabei pflanzen sich ihre tragenden Organismen - Korallen und Seegras - vorwiegend asexuell, über Verzweigung, fort und können so Hunderte von Quadratmetern besiedeln. Biologisch gesehen schien das lange Zeit ein Paradox: Klone galten als evolutionäre Sackgassen ohne genetische Variation und damit ohne Möglichkeit, sich an schnell verändernde Umweltbedingungen und Parasiten anzupassen. »Aber es gibt eine große Zahl von Arten im Pflanzen- und Tierreich, die scheinen sich um dieses Dogma nicht im geringsten zu scheren«, sagt Thorsten Reusch, Professor für Marine Ökologie am GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel.

Mit einer kürzlich in der Fachzeitschrift »Nature Ecology and Evolution« erschienenen Studie liefern er und sein internationales Team nun einen ersten Erklärungsansatz dafür: Wie sie zeigen, ist die Erbinformation der einzelnen Ableger des Gewöhnlichen Seegrases Zostera marina nahe der finnischen Åland-Inseln nämlich alles andere als homogen. »Wir waren sehr überrascht über das Ausmaß dieser ›somatischen‹ (im vegetativem Gewebe entstehenden - die Autorin) genetischen Variation«, erzählt der Erstautor der Studie, Lei Yu. »Wir fanden Hunderte von Genen, die durch Variation der DNA-Basensequenz an Positionen betroffen waren, welche das resultierende Protein tatsächlich verändern würden.«

Damit müssten evolutionäre Begriffe und Konzepte überdacht werden, meint Reusch: »Wir brauchen eine neue Definition des Begriffs Individuum, denn die Ableger oder Rameten, welche zusammen den Klon bilden, sind genetisch unterschiedlich und in sich einzigartig.« Dabei sind Millionen von ihnen im Laufe von Jahrhunderten aus derselben Pflanze hervorgegangen. Der Meeresbiologe sieht in dieser großen genetischen Vielfalt der einzelnen Ableger eine mögliche Erklärung dafür, warum Seegräser und Korallen ökologisch so stabil sind und auch unter starkem Umweltstress bislang nicht ausgestorben sind.

Auch bei Klonen werden Eigenschaften selektiert: So setzen sich, laut Reusch, etwa in Bereichen mit weniger Licht Seegras-Ableger durch, die besser damit zurechtkommen. Es sei jedoch schwierig zu ermitteln, welche der Mutationen dabei entscheidend war, denn mit jeder erfolgreichen Mutation vermehren sich auch die neutralen oder negativen Veränderungen des Erbguts. »Letztere sind schwer wieder loszuwerden, da bei der klonalen Fortpflanzung die Rekombination fehlt, welche mehrere gute Variationen zusammenbringen kann, während eine Kombination schlechter Varianten herausselektiert wird«, so Reusch.

In Rahmen des Projekts ADAPTASEX wollen Wissenschaftler*innen des GEOMAR, Korallen- und Krebsforscher nun herausfinden, wie verbreitet Anpassungsprozesse in Klonen sind und wie sich diese mit Hilfe von Prinzipien aus der Krebsforschung modellieren lassen. Die Zusammenarbeit ist nicht zufällig, denn auch bei bösartigen Tumoren stellt sich die Frage, welche der vielen Mutationen in den betroffenen Zellen ihr Auslöser ist. »Während jedoch bei Krebs der Gesamtorganismus schlussendlich zugrunde geht, stirbt beim Seegras im Falle schädlicher Mutationen nie die ganze Pflanze ab, sondern nur der jeweilige Zweig«, erklärt Reusch. Dies sei auch der Grund, warum die Mullers-Ratchet-Hypothese, nach der umfassende Mutationen asexuelle Populationen letztlich zur Strecke bringen, beim Seegras vermutlich nicht greife. Vielleicht verlaufe der Degenerationsprozess bei einem so großen Organismus aber auch nur sehr langsam.

Aktuell zu schaffen machen dem Seegras und vor allem den Warmwasserkorallen aber die Erwärmung der Ozeane, Überdüngung und Lichtmangel. Wie viel Spielraum ihnen tatsächlich bleibt, sich mittels ihrer genetischen Vielfalt daran anzupassen, werden erst zukünftige Forschungsarbeiten erweisen.

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