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Langfristige Strategie und breiter Konsens

Über den schwedischen Weg in der Coronakrise und linke Antworten auf Missstände bei Pflege und Gesundheit

  • Lesedauer: 4 Min.

Alle Parteien im Reichstag unterstützen die Strategie der Regierung in Bezug auf Covid-19. Worauf beruht diese Eintracht?

Das Vertrauen in die Institutionen im Land ist groß und ebenso der Wille, in Zeiten tiefer Krisen gemeinsame Lösungen zu finden. In Schweden befolgt eine überwältigende Mehrheit die Empfehlungen der Behörden - ohne Polizisten auf der Straße, ohne Ausgangssperre, ohne Verordnung, aber in Kenntnis der Tatsache, dass wir diese Krankheit eindämmen wollen.

Zur Person
Der frühere Metallarbeiter und EU-Parlamentarier Jonas Sjöstedt ist seit 2012 Vorsitzender der schwedischen Linkspartei Vänsterpartiet. Dem Reichstag gehört er als Abgeordneter seit 2010 an. In Stockholm sprach mit ihm für »nd« Unai Aranzadi. (Übersetzung: Peter Steiniger)

Die rechtsextremen Schwedendemokraten sind drittstärkste Kraft. Wie gehen Sie damit um?

Wir treffen keine Abmachungen mit Ihnen. Das tun wir mit allen Parteien, aber nicht mit der rechts außen. Wir betrachten die Schwedendemokraten als Rassisten, die faschistische Wurzeln haben.

Die schwedische Verfassung kennt keinen Ausnahmezustand in Friedenszeiten …

Eine Ausgangssperre oder Ähnliches gibt unser Recht nicht her. Wir haben diese Tradition nicht, und es gibt auch keine Unruhen oder sonst etwas, das einen Lockdown erforderlich machen würde. Mir gefällt diese nicht autoritäre Methode. Schweden hat sich auch entschieden, das gesellschaftliche Leben nicht stillstehen zu lassen. Nach einigen Wochen, als sich das Virus ausbreitete, wurde beschlossen, die am stärksten Gefährdeten zu schützen, aber es war unmöglich, es ganz aufzuhalten.

Wie sieht der schwedische Alltag in diesen Zeiten aus?

Die Schweden haben ihre Lebensweise drastisch geändert. Die meisten, die das können, arbeiten von zu Hause aus. Reisen ins In- und Ausland unterbleiben fast vollständig. Ältere und Menschen aus anderen Risikogruppen haben sich in freiwillige Quarantäne begeben. Manchmal wird so getan, als ob hier das Leben normal weiterläuft. Aber so ist es nicht.

Wo bleibt bei so viel Konsens die politische Opposition?

Wir stehen zu vielen Dingen kritisch, aber wir schreien nicht, sondern wir reden. In dieser sehr ernsten Lage gibt es eine gemeinsame Verantwortung für die Bevölkerung und die Wählerschaft. Hierbei hat die Linke ganz deutlich auf die schlechten Arbeitsbedingungen in der Altenpflege hingewiesen. Auf mangelhafte Ausbildung und fehlende Schutzmittel. Wir brauchen mehr Investitionen in Krankenhäuser und Altenheime.

Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen der Zahl der Todesfälle und den Privatisierungen in der Pflege?

Der ist ganz offensichtlich. Etwa die Hälfte der Covid-19-Todesfälle in Schweden entfällt auf Altenheime. Die schlimmste Entwicklung gab es in der Region Stockholm, also dort, wo am meisten privatisiert wurde. Es gibt auf diesem Feld viele unseriöse Akteure, die nur auf Profit aus sind. Die nur unsichere Jobs und Zeitverträge bieten. Weil sie nicht fest, sondern nur befristet angestellt waren, konnten sich Beschäftigte nicht krankschreiben lassen, haben weitergearbeitet. Was eine Katastrophe ist. Wenn eine grundlegende Ausbildung fehlt und das Recht, bei Krankheit zu Hause zu bleiben, ist das eine sehr schlechte Situation. Es gab private Dienstherren, die Angestellte sogar krank und ohne Schutzausrüstung zur Arbeit zwangen. Dasselbe Personal, das mit Infizierten zu tun hatte, wurde auch in Heimen eingesetzt, wo das Virus noch nicht aufgetreten war. In Schweden spürt man allgemein, dass die Jahre der Kürzungen und Privatisierungen unser Gesundheitssystem und die Pflege sehr geschwächt haben. Die Beschäftigten dort benötigen Ausbildung und echte Verträge.

In etlichen Medien wurde Schweden schon früh für seinen Umgang mit der Pandemie hart kritisiert. Fühlen Sie sich als schwarzes Schaf?

Einige fanden es ja provozierend, dass Schweden auf die Straße und ein Bier trinken gehen können. Aber auch in deren Ländern geht es nun immer mehr wie in Schweden zu. Dort lockert man die Einschränkungen, und bei uns lockert man sie nicht. Es geht um ein Level, das sich über längere Zeit aufrechterhalten lässt. Denn das hier kann Monate oder sogar Jahre dauern. Wir können nicht ewig die ganze Gesellschaft oder etwa die Schulen abriegeln, sondern müssen bei der Wahl der Mittel langfristig denken. Die Zahl der Todesfälle in Schweden ist hoch. Zu viele ältere Menschen sterben, keine Frage. Wir sind mitten in einem Tunnel, in den einige Länder gerade erst hineingeraten, und ich hoffe, sie erleben nicht dasselbe. Aber ich fürchte, es wird schwierig sein, das zu vermeiden.

Norwegen und Dänemark lassen schwedische Bürger nicht mehr einreisen. Was halten Sie davon?

Wir hatten lange offene Grenzen, konnten frei reisen. Natürlich steht es ihnen zu, das einzuschränken. Aber es ist schon sehr seltsam, wenn täglich Tausende Dänen zum Shoppen nach Malmö kommen, aber Malmöer nicht nach Kopenhagen fahren können. Dabei ist die Ausbreitung des Virus in Kopenhagen schlimmer als in Malmö.

Welche Rolle spielt die Ökonomie?

Wir wollen Jobs retten. Dass die Wirtschaft nicht stillstand, ist dabei zwar hilfreich, war aber kein Entscheidungsgrund. Außerdem ist Schweden sehr exportorientiert. Wenn es die Wirtschaft anderswo trifft, trifft es uns unvermeidlich genauso.

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