»Alle Barrios hier am Hang sind erkämpft worden«

Für den kolumbianischen Museumsdirektor David Gómez lebt Erinnerung vom Gang durch sein Viertel: Man muss es spüren, riechen, sehen

  • Ani Dießelmann und Andreas Hetzer
  • Lesedauer: 7 Min.

Im Haus von David Gómez’ Familie befindet sich das Museo Popular de Siloé, ein Stadtteilmuseum im ärmsten und gefährlichsten Viertel von Cali. An der Fassade hängen Plakate, alte Fahrräder und Teufelsmasken. Durch die offene Garagentür erspähen wir einige Vitrinen mit alten Schwarz-Weiß-Fotos. Statt zu einer Museumstour fordert er uns auf, mit dem Motorrad quer durch das Viertel hinter ihm herzufahren.

Wir gehen nicht ins Museum?

Nein, heute nicht. Heute schauen wir uns an, wie Geschichte geschrieben wird. Das hier ist ein historischer Moment. Die Menschen solidarisieren sich und besetzen gemeinsam ein Stück Land, das der Stadt gehört. Hier ist seit 15 Jahren der Bau von Sozialwohnungen geplant.

Aber offensichtlich ist das bis heute nicht passiert.

Genau. Währenddessen wurde aus dem Brachgelände eine Müllkippe, mit Schutt und Schrott, Ungeziefer und Gestank. Die Leute haben genug von leeren Versprechungen und entschieden: Wir bauen uns selbst unsere Sozialwohnungen. 74 Familien haben sich zusammengetan, das Gelände gereinigt und den Müll weggeräumt, und dann Parzellen unter sich aufgeteilt. Und statt ins Museum zu gehen sind wir nun hier, wo ein wichtiger Protest stattfindet und sich Menschen organisieren.

Wie kamen Sie dazu, das Museum zu eröffnen?

Erinnerung lebt vom Gang durch das Territorium, man muss es spüren, riechen, sehen, weswegen ich seit über 20 Jahren Menschen durch das Viertel führe - durch das angeblich gefährlichste Viertel der Stadt. Ich bin hier geboren, aufgewachsen und habe hier immer gelebt. Zuerst haben wir einen kommunitären Radiosender und später einen Fernsehkanal bespielt, dann habe ich mit den Touren angefangen, dann kam mir die Idee mit dem Museum. Ich will die Erinnerung festhalten, und alle sollen daran teilhaben können. Erinnerung ist nichts Abgeschlossenes.

Und die Landbesetzung ist Teil davon?

Sie ist für unser Viertel prototypisch. Eigentlich sind alle Barrios hier am Hang erkämpft worden. Es waren Landbesetzungen von Menschen, die durch den gewaltsamen Konflikt vertrieben wurden. Hier hat fast niemand ein Stück Land gekauft oder gemietet, sondern es wurde seit Beginn der Besiedlung besetzt und dann irgendwann von der Stadt anerkannt. So wie dieses Viertel ist auch unser Museum ein Ort der Erinnerung und des Protests, weil wir jeden Tag unsere eigene Geschichte schreiben.

Sie waren auch schon mal dabei?

Klar! Deswegen ist das auch emotional bewegend für mich. Ich habe das erste Mal vor 40 Jahren mitbesetzt. Heute erinnere ich die Familien daran, dass sie nicht die ersten sind, sondern Teil einer Geschichte. Das motiviert. Ihre Eltern und Großeltern unterstützen sie und berichten aus eigener Erfahrung, dass Widerstand einen langen Atem braucht. Denn jedes Mal hat der Staat mit massiver Repression reagiert. Bei den Besetzungen der 1980er Jahre, als es auch an Wohnraum fehlte, kamen noch Menschen ums Leben. Heute hat die Polizei ein bisschen mehr Respekt davor, mit scharfer Munition auf die Besetzer*innen zu schießen. Vor ein paar Tagen hat sie mitten in der Nacht ihre Aufstandsbekämpfungseinheit geschickt und Tränengas und Gummigeschosse eingesetzt, um die Besetzer*innen zu vertreiben. Das alles ohne Vorwarnung. Dabei wurden auch Kinder verletzt. Alle Behausungen wurden zerstört und niedergebrannt, sogar Werkzeuge mitgenommen. Doch die Menschen leisten Widerstand. Wie ihr sehen könnt, kommen sie zurück und beginnen erneut mit der Errichtung ihrer Hütten. Der Versammlungsraum ist sogar schon wieder hochgezogen.

Und Ihre eigene Geschichte ist eng verwoben mit diesem Viertel?

Die ersten Bewohner*innen dieser Hanglagen waren die Yanaconas-Indígenas. Sie wurden von den spanischen Kolonisator*innen niedergemetzelt oder versklavt. Danach kamen Großgrundbesitzer*innen und bauten unter Einsatz von Sklav*innen Zuckerrohr im Tal an. Die felsigen Hänge waren unfruchtbar und damit kaum für Landwirtschaft geeignet. Die ersten Siedler*innen waren Vertriebene aus den Goldminen von Marmato, sie haben hier Kohle gefunden und seit 1904 abgebaut. Über den illegalen Minen haben sie Häuser errichtet. Mit jeder erneuten Welle der Gewalt kamen weitere Vertriebene als Siedler, so auch meine Eltern. Ich bin 1962 geboren, als eins von vielen Geschwistern. Und ich kann mit Stolz behaupten, tatsächlich in Siloé auf die Welt gekommen zu sein, in dem Haus, in dem heute das Museum ist. Und der Geburtshelfer war niemand anders als mein Vater selbst. Bis in die 1980er Jahre trieben Leute Kohleschächte in den Berg. Doch heute lohnt das nicht mehr.

Und all das erfährt man bei einem Besuch im Museum?

Dies und noch viel mehr. Wir haben Originale der Yanaconas und von ehemaligen Guerillagruppen, die im Viertel aktiv waren, aber auch über 1000 alte Kameras und Schuhe, ein Symbol für die Anstrengung der Bewohner*innen, die jeden Tag die steilen Treppen hinaufsteigen, die das ganze Viertel durchziehen. Das Museum ist das Zentralhirn von Siloé. Es sammelt Gegenstände, Fotos, Bilder und Erinnerungen, die an diesen Objekten hängen. Jede*r kann vorbeikommen und etwas dalassen, dazu seine Erinnerung. Wir erzählen die Geschichte von unten, aus der Sicht der Menschen, die sie erlebt haben.

Wie sieht es mit der jüngeren Geschichte aus?

Die jüngere Geschichte lässt sich aus zwei Perspektiven betrachten: Die meisten Menschen der Stadt assoziieren mit Siloé Armut, Drogen, Gewalt, Bandenkriminalität, eine typische Favela. Es gibt aber auch eine andere Erzählung. Sie leugnet nicht die Problematiken im Viertel, keineswegs, fügt aber noch weitere Elemente hinzu. So ziemlich alles, was hier in Siloé existiert, wurde von seinen Bewohner*innen selbst aufgebaut. Der Staat war von Anfang an vor allem in Form von Unterdrückung präsent. Daher sind viele eigene Strukturen entstanden. Und eben nicht nur Banden, die sich untereinander bekriegen und unsichtbare Grenzen verteidigen, sondern auch Solidargemeinschaften, Nachbarschaftskomitees, Arbeitseinsätze zum Bau von Straßen, Treppen und Abwasserkanälen. Aktuell in der Coronakrise rücken die Nachbar*innen wieder enger zusammen, organisieren Volksküchen, verschenken Lebensmittel und Kleidung. Es gab Tische zum Tausch von Lebensmitteln, wo man was abgeben kann, wenn man was übrig hat, und eben etwas nehmen, wenn man bedürftig ist.

Und diese Besetzung ist ein weiteres Beispiel für die Solidarität unter den Bewohner*innen?

Richtig. Diese Besetzung geht aber über die gegenseitige Solidarität hinaus, denn sie hat eine politische Perspektive, die Landrechte in Frage stellt und einfordert. Der Kampf ist legitim, weil er den Mangel an Wohnraum aufgreift und sich für ein würdevolles Leben einsetzt. Alle Familien hier sind aus dem Sektor und kennen sich untereinander. Sie haben kein Geld, um Miete zu zahlen. Gerade jetzt in Zeiten der Corona-Pandemie und der Ausgangssperre leiden arme Familien besonders unter den Einschränkungen. Fast alle hier arbeiten im informellen Sektor, verkaufen Essen auf der Straße oder sind Tagelöhner. Sie leben von heute auf morgen und haben keine Sozialversicherung oder Ersparnisse, um die Zeit ohne Einkommen zu überstehen.

Das erklärt auch den Zeitpunkt der Besetzung, obwohl das Gelände schon so lange brachliegt, oder?

Klar, gerade jetzt ist die Not noch gestiegen. Und dazu kommt, dass wegen der Pandemie auch die Enge des Zusammenlebens noch stärker zu spüren ist. In Siloé wirken manche Häuser von außen gar nicht so ärmlich oder prekär - aber wer weiß, wie viele Menschen auf engstem Raum zusammenwohnen, kennt deren Nöte. Und so halten viele junge Paare mit Kindern es nach zwei Monaten Quarantäne nicht mehr im Haus der Eltern aus. Oft wohnen sechs oder mehr Personen in einem oder zwei Zimmern. Deswegen sind hier so viele junge Familien mit Kindern bei der Besetzung dabei. Laut der Stadtverwaltung handelt es sich um kriminelle Strukturen, die sich das Land aneignen und es dann verkaufen wollen. Eine Lüge, um die gewaltsame Räumung zu rechtfertigen. Deswegen ist es so wichtig, dass Leute hier hochkommen, sich vom Gegenteil überzeugen und uns unterstützen.

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