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Grundrechte nicht an Instrumente koppeln

Linke-Politiker Andrej Hunko begrüßt Aufhebung von Grenzschließungen in Europa und sieht Corona-App skeptisch

  • Peter Steininger
  • Lesedauer: 5 Min.

Für 31 europäische Länder laufen »Reisewarnungen« der Bundesregierung aus. Ist der Zeitpunkt zur Aufhebung solcher Beschränkungen klug gewählt?

Die Grenzschließungen waren aus meiner Sicht in der Summe ohnehin überzogen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hatte das nicht empfohlen und von einem nur sehr geringen Einfluss solcher Maßnahmen auf die Pandemie gesprochen. Das Ganze hatte mit der Situation im März zu tun, auf die man nicht so gut vorbereitet war. Die jetzige Öffnungsankündigung für die 31 Länder, also EU plus Staaten wie Island, Norwegen und so weiter, halte ich für sinnvoll und richtig. Zumal ein Grenzwert für 50 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner zur Identifizierung von Risikogebieten gilt.

Zur Person

Andrej Hunko ist europapolitischer Sprecher und stellvertretender Vorsitzender der Fraktion Die Linke im Bundestag und gehört dem Vorstand seiner Partei an. Seit 2010 ist er Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates. Das Gespräch führte Peter Steiniger.

Foto: dpa/Monika Skolimowska

Sind Aussagekraft und Vergleichbarkeit von Corona-Statistiken auch in entwickelten Ländern nicht ziemlich umstritten?

Dass man aus der jetzigen Situation herauszukommen versucht, finde ich richtig, doch die Frage der Vergleichbarkeit ist schon ein Problem. In der Tat wird nach unterschiedlichen Kriterien gezählt oder auch verschieden breit getestet. Ich hab da auch meine Fragezeichen.

Die meisten Länder, darunter Urlaubsregionen wie die Türkei, Nordafrika oder die Karibik, gelten weiter als Risikogebiete. Über Ausnahmen sollen Beurteilungsverfahren entscheiden. Wie kann das transparent laufen?

Eine amtliche Reisewarnung ist ja kein Reiseverbot. Man kann durchaus auch in die Karibik fahren, wenn der dortige Staat die Grenzen geöffnet hat. Allerdings sieht das Auswärtige Amt eine Unwägbarkeit, was erneute Schließungen angeht. Und will sich offenbar absichern, dass sie nicht noch mal so eine riesige Rückholaktion wie im März machen müssen. Wie schlüssig die Kriterien sind, wird man sich im Einzelnen anschauen müssen: ob epidemiologisch und medizinisch notwendig oder vielleicht politisch, geopolitisch motiviert.

Das wäre potenziell doch ein erhebliches Druckmittel.

Genau, wie der Fall Türkei bereits zeigt. Die Türkei macht ja massiven Druck, um auch von der Reisewarnung ausgenommen zu werden. Bei entsprechenden Diskussionen muss man natürlich hinschauen, dass das nicht politisch missbraucht wird.

Über Quarantäne-Bestimmungen, wie gegenüber Schweden, entscheidet jedes Bundesland für sich. Halten Sie das für vernünftig?

Also, eigentlich nicht. Weil die Gesundheitskompetenz bei den Ländern liegt, können sie unterschiedliche Regelungen zur Einreise erlassen. Da geht der Föderalismus etwas weit. Einreisen nach Deutschland sollten einheitlich geregelt sein.

Urlaub und Erholung dürften sich durch die Krise und viele Auflagen für den Tourismus verteuern. Wird Reisen wieder zum Privileg weniger?

Fernreisen möglicherweise tatsächlich. Viele Folgen sind noch gar nicht genau absehbar, etwa für den Zugverkehr. Es wird auf jeden Fall erst einmal dazu führen, das man eher heimatnah Urlaub macht. Es kann durchaus dazu kommen, dass sich Reisen nach Thailand etwa oder in die Karibik nur noch bestimmte Leute leisten können.

Haben Branchen wie der Kreuzfahrttourismus noch eine Zukunft?

Es wird wohl einen längeren Zeitraum, sicherlich zwei, drei Jahre, geben, in dem keine größeren Kreuzfahrten mehr angeboten werden. Ob sich diese Branche davon erholt, ist wirklich sehr fraglich.

Die EU-Kommission wirbt für ein abgestimmtes Vorgehen der Staatengemeinschaft. Können Sie ein solches erkennen?

Die EU sah in der ganzen Coronakrise nicht besonders gut aus, was die Kohärenz ziviler europaweiter Maßnahmen betrifft. Angefangen beim Katastrophenschutz, über die Frage der Grenzschließungen bis hin zur Corona-Warn-App jetzt. Hier fehlten entsprechende Strukturen, und auch die EU-Kommission geht eher geschwächt aus der Krise hervor.

Die Bundesregierung lehnt ein Gesetz zur hiesigen App ab, wie es Ihre Fraktion fordert. Fürchten Sie, dass aus freiwilliger Nutzung bald faktischer Zwang wird?

Genau wie beim Immunitätsausweis, der diskutiert wurde, ist das die große Gefahr. Ich bin auch einigermaßen skeptisch, was den Nutzen dieser App angeht. Selbst in Island, das in vieler Hinsicht vorbildlich reagiert hat, viel und früh testete und eine hohe Akzeptanz für die App erreichte, schätzt man ein, dass die zum guten Verlauf dort kaum etwas beigetragen hat. Im Vordergrund muss die Freiwilligkeit stehen. Und generell finde ich, dass man Grundrechte nicht an bestimmte Instrumente koppeln darf, sei es eine App oder ein Immunitätsausweis.

Welche Weichen sollten für den Tourismus nach Corona statt dessen neu gestellt werden?

Nachhaltige Formen des Reisens jenseits des Flugverkehrs sollten stärker gefördert werden. So etwas wie ein verlängertes Shopping-Wochenende in einer anderen europäischen Großstadt sollte eigentlich der Vergangenheit angehören. Wir brauchen Konzepte, die ressourcenschonender sind, die lokalen Gegebenheiten stärker berücksichtigen.

Eine Phase der Isolierung endet. Was tut die Linke, damit Europa auch wieder über den Tellerrand schaut?

Da gelten alle unsere Forderungen aus der Zeit vor Corona weiter. Das betrifft insbesondere eine humanitäre Flüchtlingspolitik. Wir müssen den Menschen die Fluchtursachen bewusst machen - die Lage in den Herkunftsländern, die Folgen der Kriege, aber auch von Ausbeutung und Unterentwicklung verdeutlichen.
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