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Gerechtigkeit statt Gesetzlichkeit

Die Politikwissenschaftlerin Emilia Roig über die Grundlage unseres Justizsystems, Reformen und Restorative Justice

  • Ulrike Wagener
  • Lesedauer: 3 Min.

Restorative Justice bedeutet wiederherstellende Gerechtigkeit, Wiedergutmachung statt Strafe. Wie kann das gehen?

Zunächst müssen wir verstehen, dass Kriminalität ein soziales und politisches Konstrukt ist. Gesetzlichkeit ist nicht gleichbedeutend mit Gerechtigkeit. So werden etwa Betteln, Sexarbeit oder Umgang mit Drogen teils als kriminell konstruiert, während es für riesige Unternehmen gesetzeskonform ist, einen sehr geringen Steuersatz zu zahlen oder giftige Abfälle in der Umwelt zu entsorgen. Über Gesetze entscheiden die dominanten Gruppen unserer Gesellschaft.

Emilia Roig

Die Politikwissenschaftlerin Emilia Roig leitet das Center for Intersectional Justice (CIJ) in Berlin. Sie arbeitet zu Gleichstellungs- und Antidiskriminierungspolitik in Deutschland und Europa. Und das Foto ist online nicht zu sehen.

Was würde Restorative Justice ändern?

Im jetzigen Strafsystem ist das primäre Ziel die Bestrafung und der Ausschluss der Täter. Doch das ist nur in wenigen Fällen notwendig, um weiteren Schaden zu vermeiden. Straftaten sind Teil unseres ökonomischen Systems, kein individuelles Problem.

Wie sollte man also damit umgehen?

Restorative Justice konzentriert sich auf den entstandenen Schaden und eine mögliche Wiedergutmachung. In einem Aushandlungsprozess zwischen Opfer und Täter könnte darüber entschieden werden, welcher Schaden angerichtet wurde und wie das Opfer entschädigt werden könnte, ob finanziell, in Form einer Dienstleistung oder ähnlichem. Auch die Anerkennung des Schadens spielt eine große Rolle.

Aber wie soll das gehen, ohne das ganze System zu verändern?

Das ist genau der Punkt. Unser Strafverfolgungssystem inklusive Polizei und Gefängnis sind nicht vereinbar mit Restorative Justice. Und es kann auch nicht reformiert werden, um gerechter zu werden.

Warum nicht?

Gefängnisse und Polizei wurden geschaffen, um die Interessen, Privilegien und den Besitz der Herrschenden zu verteidigen. Solange dies nicht grundlegend in Frage gestellt wird, können Reformen nichts bewirken.

Was ist mit Versuchen, Probleme innerhalb der eigenen Gemeinschaft zu lösen, ohne staatliche Institutionen?

Ich bin nicht dafür, parallel ein peripheres System neben dem staatlichen Strafsystem zu erschaffen, das würde nicht funktionieren. Stattdessen brauchen wir eine Redefinition von Strafe und Kriminalität sowie eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit den historischen Quellen unseres Strafsystems. Die überwiegende Mehrheit der Gefangenen ist aus strukturellen und wirtschaftlichen Gründen inhaftiert, nicht aus pathologischen.

Sie wollen also das ganze System abschaffen?

Das klingt vielleicht revolutionär. Aber auch die Abschaffung der Sklaverei war das Ende eines langwierigen Prozesses. Zu Beginn hat man auch da versucht, das System lediglich zu reformieren, weil man dachte, die Gesellschaft - die auf 400 Jahre unbezahlter Arbeit gestützt war - würde ohne die Sklaverei nicht überleben. Erst viel später wurde klar: Ein System, dessen Grundlage die Unterdrückung von Menschen ist, kann auch durch Reformen nicht gerecht werden.

Wie könnte ein neues System aussehen?

Natürlich können wir ein jahrhundertealtes System nicht von heute auf morgen ersetzen; das muss graduell stattfinden. Zunächst wäre es wichtig zu sehen: Welche Praktiken richten Schaden an? Wir wissen, dass Polizeigewalt und Racial Profiling Kriminalität nicht vorbeugen. Solche diskriminierenden Praktiken müssen zuerst abgeschafft werden. Zudem brauchen wir echte Rehabilitationsprogramme, die verhindern, dass Inhaftierte direkt nach ihrer Entlassung wieder ins Gefängnis kommen. Dazu müssen wir die sozialen Strukturen verstehen, die zu Straftaten führen.

Im Moment werden erneut Stimmen laut, die Reparationen für Sklaverei und Kolonialismus fordern. Wie steht das im Zusammenhang mit Restorative Justice?

Direkt. Es geht darum, die in der Vergangenheit angerichteten Schäden anzuerkennen und zu entschädigen. Denn diese wirken bis heute: Die Tatsache, dass Länder im Globalen Süden viel ärmer sind als die im Globalen Norden, ist direkt mit der Sklaverei verbunden. Und Zwangsarbeit, die während des Nationalsozialismus in Deutschland geleistet wurde, hat einen direkten Einfluss auf den Reichtum des Landes und deutscher Unternehmen. Susanne Klatten wäre ohne den Holocaust heute nicht die reichste Frau Deutschlands.

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