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Aus dem Lockdown erwacht
Hamburger Kulturschaffende vom Theater Kampnagel, dem Club Molotow und dem Elbphilharmonieorchester schmieden zuversichtlich Pläne für eine ungewisse Zukunft.
1. Akt: Begreifen
Anfang März im ICE von Hamburg nach München: Amelie Deuflhard (60) ist auf dem Weg zur »Tanzplattform 2020«. Die Intendantin des Hamburger Theaters Kampnagel plagt eine leichte Erkältung. Sie hat sich mit Hustenbonbons und Taschentüchern eingedeckt. »Oh Mist«, habe sie sich noch gedacht, berichtet die Theaterchefin wenig später im Gespräch mit dem »nd«. »Mit dem Husten im Zug denken bestimmt alle, ich habe Corona.« Wenige Tage zuvor war der erste Fall in Hamburg bekannt geworden. Dennoch, die herannahende Katastrophe hätten zwar alle gespürt beim größten Branchentreffen der zeitgenössischen Tanzszene in München, aber auch noch relativ erfolgreich verdrängt. »Alle haben wir uns noch mit Küsschen-Küsschen begrüßt«, so Deuflhard. »Das ist rückblickend schon absurd.«
Einige Tage später, am 10. März, habe sie sich mit den Intendant*innen des Thalia-Theaters und des Deutschen Schauspielhauses beraten. Wie verhindern wir Schließungen? Mit welchen Sicherheitskonzepten können wir weitermachen? Am 12. März hätten alle Theater nochmal gespielt. Anderntags habe Joachim Lux vom Thalia dann als erster gesagt: »Wir schließen!« Am 8. März hatte es den ersten deutschen Corona-Toten gegeben. Die Zahlen stiegen ab da sprunghaft an, am 11. März gab es die erste Hamburger Allgemeinverfügung - Quarantäne für alle, die vom Urlaub aus Risikogebieten zurückkehren. Plötzlich dämmerte es den Theatermacher*innen: Wir können das nicht verantworten! Amelie Deuflhard schrieb dem Kultursenator Carsten Brosda (SPD) eine Mail, dass er, wenn er entscheiden würde, die Staatstheater zu schließen, Kampnagel doch bitte auch zumachen solle.
Einer der Rückkehrer aus dem Urlaub: Valentin Priebus (34), Cellist beim NDR-Elbphilharmonie-Orchester. Er war zwei Wochen mit seiner Freundin in Südtirol. Obwohl sie in einem abgelegenen Tal ohne Covid-19-Fälle waren, soll er nach seiner Rückkehr in Quarantäne. Was ihm zu dem Zeitpunkt noch absurd vorkommt. »Dann saßen wir auf der Rückfahrt im Auto, und bekamen die Nachricht, dass nächste Woche erstmal nicht normal geprobt wird«, berichtet er. Die Konzerte der Elbphilharmonie seien vorerst ausgesetzt. Wie es weitergeht? Das müsse man schauen. Schnell war klar: Bis zur Sommerpause am 30. Juni gibt es keine Auftritte mehr mit Publikum.
Nils Warkentin (32) ist gleich doppelt betroffen von der Pandemie: Zum einen als Produktionsleiter im Musikclub Molotow auf der Reeperbahn, einem wichtigen Ort für die hiesige Indie-Szene. Zum anderen als Schlagzeuger der Band Abramowicz. Am 12. März soll eine kleine Tour starten, im Sommer sind Festivals geplant. Die Band ist zwiegespalten: »Mein Bruder Sören, der bei uns singt, und ich hielten das alles schon für ein Mega-Thema, die anderen eher noch nicht so.« Sie fahren nach Köln zum ersten Konzert, erklären sich in den sozialen Netzwerken ihren Fans. Schließlich seien sie ja noch eine kleine Band, selten kämen mehr als 100 Gäste zu ihren Konzerten. Dann wird es doch allen mulmig, nach dem Auftritt im »Stereo Wonderland« wird die Tour abgebrochen.
Auch das Molotow muss die Pforten schließen. Dabei hätten sie noch eine gefühlte Ewigkeit auf eine Ansage vom Senat gewartet, damit sie nicht auf allen Kosten sitzen bleiben. »Andererseits hat man natürlich auch eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung«, so Warkentin. Andere Läden wie »Hafenklang« oder »Uebel und Gefährlich« preschen vor, Ende der Woche macht auch das Molotow dicht. Am Montag darauf, dem 16. März, hat der Senat ein Einsehen, die behördliche Verfügung kommt, dass offiziell alle Musikclubs und Bars schließen müssen.
2. Akt: Handeln
Montag, 27. April, auf dem NDR-Gelände in Rotherbaum. Valentin Priebus sitzt in einem Probenzimmer und übt. Allein. Zunächst hatten er und die Kolleg*innen noch gedacht, sie könnten die konzertfreie Zeit zum gemeinsamen Proben nutzen. Die Realität holt sie jedoch schnell ein. Jetzt hat Priebus die anderen seit Wochen nicht gesehen. Keine musikalische Interaktion. Kein Lauschen auf den Atem der Sitznachbarin für den gemeinsamen Einsatz. »Am meisten vermisse ich, in diesem Klang zu sitzen«, sagt der Cellist. Seit sieben Jahren ist er Teil des über hundertköpfigen Orchesters. »Im Moment versuche ich noch, das Positive zu sehen.« Nie mehr seit dem Studium habe er so viel Zeit gehabt, sich mit seinem Instrument zu befassen. Vier Stunden alleine proben? Normalerweise nicht drin im Arbeitsalltag, der gespickt ist von Orchesterproben und Konzerten, bis zu vier in einer Woche.
Allerdings, ergänzt Priebus, er und seine Kolleg*innen hätten natürlich Glück, da sie ihre Gehälter weiter bekommen. Bei all den freien Orchestermusiker*innen sei die Lage existenziell. Um wenigstens etwas Ausgleich zu schaffen, hätten ihr Orchester und das Philharmonische Staatsorchester der Hamburgischen Staatsoper für die Freien gesammelt und in den Künstlersozialfonds eingezahlt. Ausfallgehälter seien auch gezahlt worden. Und dennoch: Für die freischaffenden Musiker*innen sehe es düsterer aus. Zumal ja niemand wisse, ob die Pause noch drei Monate oder drei Jahre dauert. Erste gemeinsame Aktionen seines Orchesters gab es mittlerweile. Am Ostersonntag wurde ein Mini-Konzert ausgestrahlt. Als »hoffnungsvollen Gruß in die Welt« wurde das Video geschickt, in dem die Musiker*innen Johannes Brahms’ Sinfonie Nr. 1 spielten. Gemeinsam, wenn auch doch jede*r für sich alleine zu Hause. In der coronatypischen Splitscreen-Optik dargeboten.
Dienstag, 19. Mai, der Hinterhof des Molotow. Fieberhaft schieben Nils Warkentin, sein Bruder Sören und die Kollegin Fenja zunächst Bierkästen, dann Tische und Bänke hin und her, überlegen sich ein Corona-Konzept. Der Senat hat angekündigt, dass »Schankwirtschaften« öffnen dürfen. Ein Kriterium, das sie erfüllen, solange keine laute Musik läuft. Draußen im Hof scheint das Risiko den Molotow-Leuten vertretbar. Abstände, Maskenpflicht, Pfeile auf dem Boden signalisieren ein Einbahnstraßensystem - so sollte es gehen! Endlich wieder Kund*innen und Freund*innen des Molotow treffen. Und bald, wenn das Konzept funktioniert, auch die Kolleg*innen. Die zwölf Festangestellten sind zwar in Kurzarbeit und immer mal wieder im Haus: Anträge stellen, Live-Streams planen und durchführen, Gespräche mit Behörden, dem Vermieter, dem Hamburger Clubkombinat. Aber die Türcrew und die Menschen an der Bar, fast alle Soloselbstständige und 450-Euro-Jobber*innen - die waren seit Wochen nicht hier.
»Ich musste Leute anrufen, die hier seit 2012 arbeiten, die sind teils länger hier als ich«, sagt Warkentin. »Und denen sagen zu müssen: ›Wir können dich fürs Erste nicht mehr beschäftigen.‹ Das ist einfach scheiße.« Das Schlimmste dabei: Offiziell habe es ja geheißen, dass die Hürden für die Grundsicherung niedrig seien. »Aber unsere Midi-Jobber, die haben keinen Cent vom Amt bekommen. Das geht nicht.« Allerdings: Unterm Strich ist Warkentin dennoch positiv überrascht von der Konsequenz, mit der zumindest den Institutionen in Hamburg geholfen wurde. Kultursenator Brosda habe die Musikclubs in dem Zusammenhang öffentlich als »Kulturbetriebe« bezeichnet. Sowas hätte es bei seinen Vorgänger*innen nie gegeben. Jetzt aber sei dank der Liquiditätshilfe die Existenz fürs Erste gesichert. Auch Clubstiftung und Clubkombinat, zwei unabhängige Organisationen, vergleichbar der Berliner Clubcommission, hätten ihren Teil beigetragen. Das Clubkombinat etwa hätte 140 000 Euro Spenden für die Hamburger Clubs gesammelt. Im Moment würden die noch treuhänderisch verwaltet. Falls die Unterstützung der Behörde mal ausbleibt.
Auch die Solidarität der treuen Gäste sei überragend gewesen. Jede Menge Soli-Shirts seien über den digitalen Tresen gegangen. Täglich hätten sie Nachrichten bekommen. Was ihn vor allem beeindruckt hat: Wie sehr die Stammgäste offenbar nach dem sozialen Raum lechzten, den sonst der Club bietet. Um im Gespräch zu bleiben hätten sie schnell Live-Streams organisiert. Pub-Quiz, Konzerte unter anderem von seiner eigenen Band, DJ-Sets. »Die Leute sind so abgegangen in den Chats«, so Warkentin. »Dann wurden ständig virtuelle Schnapsrunden bestellt und sich im Chat zugeprostet. Du hast richtig gemerkt, wie den Leuten soziale Interaktion gefehlt hat.«
Sonntag, 21. Juni, die »Piazza« vor Kampnagel, das Wetter fast schon italienisch-sommerlich. Amelie Deuflhard kommt mit ihrem 50er-Roller angetuckert. Sie will sich den Abschluss des »Live Art Festivals« ansehen, das auch Generalprobe für das Internationale Sommerfestival unter Corona-Bedingungen war. Hinter Deuflhard liegen arbeitsreiche Wochen. Den Spielplan abwickeln, auswärtigen Produktionen absagen, mit den Mitarbeiter*innen sprechen, mit dem Betriebsrat verhandeln, Kurzarbeit beantragen. »Das war anfangs schon ziemlich tough«, sagt die Intendantin. »Aber es entspricht einfach nicht meinem Naturell, den Kopf in den Sand zu stecken.« Also Flucht nach vorne, konstruktiv mit der Situation umgehen. Anfangs hätten sie noch mit verschiedenen Szenarien hantiert in den Planungen. Dann sei eben der Worst Case eingetreten: Spielzeit vorbei, keine Aufführungen mehr.
Von den drei Einnahme-Säulen seien zwei weggebrochen: die an der Kasse und die für Vermietungen. Blieben die Drittmittel. Dank Kurzarbeit und staatlicher Hilfen stünden sie aber nicht vor dem Ruin. Auch sie betont, dass zumindest in Hamburg vieles richtig gelaufen sei. Der nächste Schritt sei gewesen, ein Ersatzprogramm zu kreieren. Podcasts wurden aufgesetzt, Diskussionen gestreamt, auch kleinere Performances. Ein wenig komisch sei es schon gewesen all die Wochen, wenn sie über das Gelände ging. So leer, so still, nicht mit Leben gefüllt.
3. Akt: Hoffen und Bangen
Aber dann, berichtet Deuflhard, hätte der Senat nach vielen Gesprächen das Signal gegeben, dass das Live Art Festival im Juni stattfinden kann. Allerdings nicht auf den Kampnagel-Bühnen, sondern nur draußen, unter bestimmten hygienischen Sicherheitsstandards. »Das ganze Team freute sich riesig darauf, dass es endlich wieder losgeht.« Streamen in allen Ehren, aber Theater ohne Publikum funktioniere auf Dauer eben nicht. Jetzt sitzt die Intendantin draußen im Garten auf dem Kampnagel-Gelände. Mitte Mai hat die Kulturbehörde bekannt gegeben, dass Kampnagel das vierte Staatstheater Hamburgs wird. Ein länger geplanter Schritt. »Aber dass das jetzt in der Coronakrise passiert, ist schon ein deutliches Zeichen«, so Deuflhard. Und: Die Generalprobe für’s Sommerfestival ist geglückt. Neben Salzburg werde es europaweit das einzige große Theaterfestival in diesem Sommer sein. Sogar die dort sonst üblichen Konzerte sollen teils stattfinden.
Dennoch: Es wird ein anderes Festival als sonst. Rund ein Viertel der Zuschauer*innen in den Kampnagel-Hallen, deutlich mehr werden nach draußen oder in den digitalen Raum verlegt, Masken und Abstand als Teil der neuen Normalität. Ob sie keine Angst habe, dass aus so einem Festival ein Superspreader-Event werden könnte? »Dann würde ich das nicht machen.« Sie sei vom Sicherheitskonzept mehr als überzeugt. Und: Aktuell würden sie für die neue Spielzeit einen leicht reduzierten Spielplan aufsetzen. Ab Januar sogar einen vollen, so der heutige Stand. In der Hoffnung, dass es zu keiner zweiten Welle kommt.
Dienstag, 2. Juni, einige Wochen zuvor, der Große Saal der Elbphilharmonie. Valentin Priebus probt wieder mit Kolleg*innen. Endlich. Zwar nur für eine digitale Aufführung. Zwei Stücke in Kammerorchester-Besetzung, Felix Mendelssohn-Bartholdys Streicher-Sinfonie Nr. 10 und Arnold Schönbergs »Verklärte Nacht«. Dennoch ist die Erleichterung zu spüren, trotz Abstands zueinander, trotz der Maskenpflicht. Auf die Frage, ob er nach den vergangenen Monaten das Gefühl habe, dass Kultur als systemrelevant angesehen werde, denkt Priebus kurz nach. »Nein, wenn ich mir die Geschichten von freischaffenden Kolleg*innen vor Augen führe, kann ich das so leider nicht unterschreiben.« Am 1. September soll die Konzertsaison in der Elbphilharmonie unter besonderen Bedingungen wieder beginnen, wurde am Donnerstag verkündet. An eine baldige Normalität glaubt Priebus noch nicht so richtig. Alleine wenn man sich das übliche Publikum ihrer Veranstaltungen ansehe: »Da ist eben deutlich mehr Risikogruppe als beim Reeperbahnfestival.«
Das soll nach dem Willen des Hamburger Kultursenators tatsächlich vom 16. bis zum 19. September stattfinden. Carsten Brosda spricht von einem »Experimentierfeld«. Um zu sehen, wie ab Herbst das Clubleben wieder langsam hochgefahren werden kann. »Ich bin gespannt«, sagt Nils Warkentin. Wieder sitzt er im Hinterhof des Molotow, hinter ihm ein Schild mit der Aufschrift »White Silence is Violence«. Die Crew engagiert sich regelmäßig politisch. Ob es mit der Silence im Club allerdings bald vorbei ist? Warkentin hofft es: »Das Molotow ist halt Verstärker auf zwölf und gib ihm!« Immerhin liefen die Abende im Hinterhof auf »plus minus null« hinaus. Alles darüber hinaus würde ihnen von den staatlichen Hilfen abgezogen. Falls die ausliefen, könnten sie nicht lange durchhalten. Immerhin: Ein paar der Türsteher*innen und des Barpersonals könnten wieder arbeiten. Und die 40 Plätze im Hof seien immer ruckzuck belegt. Überall rundum sieht man glückliche Gesichter. Soweit sie nicht von einer Maske bedeckt sind.
Manchen Menschen geht das alles dennoch nicht schnell genug. Der benachbarte Club »Docks« etwa hat eine Art »Corona-Wand« eingerichtet, auf der »alternative Meinungen« zu den Corona-Maßnahmen stehen, die nicht in den »Mainstream-Medien« auftauchen. So zumindest der ursprüngliche Facebook-Post, für den sich die Macher*innen mittlerweile etwas halbherzig entschuldigt haben. Warkentin ist da deutlich defensiver. Obwohl seit 1. Juli sogar bis zu 1000 Menschen ein Sitzkonzert besuchen können. Natürlich würde er sich freuen, wenn gleich morgen wieder alles normal wäre. »Aber im Moment kann ich mir noch nicht so richtig vorstellen, ab Oktober wieder mit 400 Leuten im Club zu stehen.«
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