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Aufbruch in ein Leben in Würde

In Kolumbien betreibt ein Nonnenorden eine Textilfabrik für ausstiegswillige Prostituierte

  • Knut Henkel
  • Lesedauer: 7 Min.

Sandra Ruíz lässt die Nähmaschine rattern. »Nur ein paar Sekunden noch, um die Jacke fertigzumachen«, nuschelt sie unter dem Mundschutz, als sie merkt, dass sie beobachtet wird. Sie drückt wieder auf das Pedal. Dann blickt sie zu Claudia Camila Caro auf: »Fertig«, sagt sie, und zieht die rote Jacke mit dem »Páramo«-Logo vorsichtig unter der Nadel hervor. Claudia Camila Caro arbeitet in der Endkontrolle bei »Creaciones Miquelina«, einer Näherei in Bogotás Süden.

Serafina heißt das Arbeiterviertel, rund 20 Fahrminuten vom Zentrum der kolumbianischen Hauptstadt entfernt, wo mehr als 200 Frauen arbeiten. Jacken, Outdoor-Kleidung und Co. nähen sie, die danach gewaschen, gebügelt, verpackt und nach England verschickt werden. »Dort sitzt unser wichtigster Auftraggeber, für den wir derzeit mit rund 70 Prozent unserer Kapazität produzieren«, erklärt Caro, die heute noch etwas länger zu tun hat als die Näherinnen, von denen die meisten bereits ihren Arbeitsplatz verlassen haben.

Seit Ende April wird in der Fabrik wieder gearbeitet. »Dann stoppte ein Infektionsfall das Hochfahren und alle Angestellten mussten vier Tage erneut in Quarantäne«, erinnert sich Sandra Marcela Delgado. Sie leitet die etwas andere Fabrik unter geistlicher Führung. Ciudadela María Micaela heißt der Gebäudekomplex der »Religiosas Adoratrices«, eines Nonnenordens, der sich zum Ziel gesetzt hat, Frauen aus der Prostitution zu holen. Sandra Ruíz ist eine von ihnen. Ein Maßband baumelt um ihren Hals, den Mundschutz hat sie heruntergezogen, damit sie besser zu verstehen ist.

Wie viele andere aus der 235-köpfigen Belegschaft wohnt Sandra Ruíz gleich um die Ecke. Die von Nonnen betriebene Fabrik, die Ausbildungswerkstätten inklusive Kantine, Kindergarten und kleiner Kapelle sind ihr zu einer zweiten Heimat geworden. »Die Nonnen haben mich aus der Prostitution geholt, mir eine zweite Chance gegeben, und die habe ich ergriffen«, sagt Sandra Ruíz mit fester Stimme. »Bevor die Schwestern mich endlich überzeugen konnten, es mit ihnen zu versuchen, lebte ich auf der Straße, habe meinen Körper verkauft, Drogen konsumiert und immer wieder Gewalterfahrungen machen müssen«, erzählt sie.

Der Orden der Hermanas Adoratrices (Schwestern der Anbetung) wurde 1856 in Madrid gegründet und arbeitet seit 1929 in Kolumbien. In Bogotá sind die Hermanas seit den 1970er Jahren aktiv, suchen die Frauen gezielt in den Rotlichtvierteln Bogotás wie Santa Fé auf, knüpfen Kontakte, säen Vertrauen. Unermüdlich gehen sie auf die Prostituierten zu. Bis Frauen wie Sandra Ruíz oder die Zuschneiderin Amparo Chambo Zutrauen fassen, beginnen über den Ausstieg aus Prostitution, Drogen und Gewalt nachzudenken und ihn schließlich wagen. Dabei helfen die Nonnen: Psychologinnen, Therapeuten und Sozialarbeiterinnen, die in der Ciudadela, einem kleinen von Mauern umgebenen Refugium arbeiten, stehen ihnen zur Seite.

Luz Fanny Serrano, eine hagere Frau, hat ihr Büro im 1. Stock über der Textilfabrik. »Die Textilfabrik ist die letzte, die vierte Etappe unseres Reintegrationsprogramms. Wir nehmen auf, entgiften, therapieren und bilden aus. Wer das alles durchhält, hat eine Chance auf einen Job unten in der Fabrik«, schildert sie mit optimistisch funkelnden grau-blauen Augen den Ablauf des von ihr geleiteten Programms.

Gleich gegenüber hat Sandra Marcela Delgado ihr Büro. Die Fabrikleiterin kümmert sich um die Abwicklung der Aufträge. Die Ingenieurin, die vor zwei Jahren das Management von »Creaciones Miquelina« übernahm, hat die Produktion nach zwei miesen Jahren umgestellt. Erklärtes Ziel ist es, neue Auftraggeber zu akquirieren und die Kapazität auszubauen. »Wir haben eine soziale Mission, eine Verpflichtung gegenüber den Frauen, und je mehr Jobs wir anbieten können, desto besser«, sagt sie. Dabei hilft, dass »Creaciones Miquelina« nicht nur für Fair Trade, sondern auch nach der Qualitätsmanagementnorm IS0 9001 zertifiziert ist.

Die Coronakrise hat das Wachstumskonzept erst einmal über den Haufen geworfen. Ein Teil der Bestellungen wurde vom Auftraggeber storniert, weil der Absatz in Großbritannien ins Stocken kam. Und in Kolumbien sind zusätzliche Kosten durch die Weiterzahlung der Löhne während der Quarantäne aufgelaufen. Die Kapazitäten sind derzeit nicht ausgelastet. Neue Auftraggeber werden händeringend gesucht. Staatliche Unterstützung gibt es in Kolumbien eher für die Großen, selten für die Kleinen. Für »Creaciones Miquelina« heißt das, nach Hilfen auf internationaler Ebene suchen, Kreditoptionen abwägen und mit dem wichtigsten Auftraggeber Páramo sprechen.

Schwere Schicksale

Gestartet wurde Ende der 1970er Jahre mit zwei Nähmaschinen. Die Löhne liegen knapp oberhalb des kolumbianischen Mindestlohns. Neben dem bei Problemen und darüber hinaus unterstützenden Personal gibt es einen Kindergarten. »Die Rückkehr aus der Prostitution in ein würdevolles Leben ist nicht einfach. Viele der Frauen haben Schreckliches erlebt, Angehörige verloren, Missbrauch, waren drogenabhängig. Das schiebt niemand einfach beiseite«, berichtet die in strenger Tracht gekleidete Schwester Luz Fanny Serrano. Ein Alltag mit Regeln, mit Zeitvorgaben in einem Produktionsprozess, wo frau sich gegenseitig hilft, sei so ziemlich das Gegenteil von dem, was viele der Näherinnen vorher gelebt haben. Hin und wieder ist sie selbst noch im Rotlichtviertel Santa Fé rund um die 19. Straße unterwegs. Dort spricht sie Frauen an und macht sich ein Bild von den Verhältnissen.

In den Rotlichtvierteln sind es meist Teams aus Sozialarbeiterinnen, die nach ausstiegswilligen Straßenmädchen Ausschau halten. Hin und wieder ist eine Ehemalige dabei. »Wenn ehemalige Prostituierte über ihr neues Leben erzählen und für den Eintritt in unser Berufsausbildungszentrum werben, ist das etwas anderes, als wenn wir Nonnen das tun«, gibt Serrano unumwunden zu. Dabei kann sie sich auf Frauen wie Amparo Chambo stützen, die für den Zuschnitt der Stoffe mitverantwortlich ist. Die kleine, quirlige Frau hat mehrere ihrer Cousinen aus dem Rotlicht-Milieu in die Ciudadela geholt. Drei sind es derzeit, die ihre Ausbildung in den Werkstätten der Nonnen machen, wo es neben den Nähmaschinen auch eine Lehrküche, einen Friseursalon und weitere Ausbildungsoptionen gibt.

Auf Unterstützung angewiesen

»Ziel ist es die Frauen weiter zu qualifizieren, ihnen Perspektiven aufzuzeigen - innerhalb und außerhalb der Ciudadela«, so Schwester Serrano. Dazu gehört auch Unterstützung bei Schulabschlüssen oder dem Unibesuch. Ein besonders positives Beispiel ist die Psychologin Blanca Lydia Cardona, die im Stadtteil Serafina ein Entgiftungszentrum für Jugendliche Drogenkonsumenten aufgebaut hat - auch sie eine Frau, die die Nonnen von der Straße holten.

Ermöglicht wird die Arbeit der »Religiosas Adoratrices« nicht nur dank wieder schwarzer Zahlen in der Textilfabrik, sondern vor allem dank der Unterstützung aus dem Ausland. Die deutsche Caritas ist ein wichtiger Förderer, der aber nur noch für das laufende Jahr Psychologinnen, So-zialarbeiterinnen und die Ausbildungskurse fördern wird. Danach ist unklar, wie es weiter geht, und die Nonnen, aber auch Sandra Marcela Delgado, die Koordinatorin der Textilfabrik, sind auf der Suche nach neuen Förderern und zusätzlichen Kunden für die Fabrik.

Der Bedarf an sozialen Projekten ist in Kolumbien immens. Das Land hatte schon vor der Coronakrise mit einer Arbeitslosenquote von fast zehn Prozent zu kämpfen, die nun weiter gestiegen ist. Zudem drücken massive Finanzprobleme. Daher spart die Regierung - auch bei der Bildung und bei sozialen Programmen. Der Bildungsetat wurde um acht Prozent eingedampft, was Proteste von Studenten und Lehrern nach sich zog.

»Wir haben es mit einer Regierung zu tun, die untätig zuschaut, wenn soziale Aktivisten ermordet werden und der ein Korruptionsskandal nach dem anderen nachgewiesen wird«, ärgert sich Schwester Serrano und schüttelt missbilligend den Kopf mit der beigefarbenen Haube.

Bildung ist für sie entscheidend und bei »Creaciones Miquelina« gehört auch die Weiterbildung der Mitarbeiterinnen dazu. Die Ansprüche an Outdoor-Kleidung steigen, denn sie wird immer raffinierter. Ein Blick in die Endkontrolle, wo gerade die letzten Regenjacken mit dem Páramo-Sticker durch die Hände von Claudia Camila Caro gehen, bestätigt das. Die Kooperation mit dem britischen Unternehmen, das seit 1992 seine Entwürfe nach Kolumbien schickt, sei erfreulich unkompliziert. »Sie verhalten sich solidarisch mit unserem Projekt, und das ist für uns die Grundlage, um hier ein bisschen was zu ändern«, sagt Caro und legt die Regenjacke in eine Box. Auch für sie ist nun Feierabend.

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