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Identitätspolitik ist so deutsch

Hengameh Yaghoobifarahs Kolumne sollte an Schulen gelehrt werden

  • Ruth Oppl
  • Lesedauer: 7 Min.

Wir sind Papst!» Die Schlagzeile, mit der die «Bild»-Zeitung vor 15 Jahren anlässlich der Wahl Joseph Ratzingers titelte, heimste diverse Preise ein, wie den Goldenen und Silbernen Nagel des «Art Directors Club Deutschland» oder den «European Newspaper Award», und wurde in der Folge über die Jahre hinweg laufend variiert. «Wir» waren dann auch «Kanzler» (2005), «WeltmeisterIN» (2007), «Nobelpreis» (2007) und «Oscar» (2008). An den Journalistenschulen gehört die «Kult-Bild-Schlagzeile» («Bild») zum Lehrstoff. Es ist zu hoffen, dass auch Hengameh Yaghoobifarahs Kolumne «All cops are berufsunfähig», die am 15. Juni in der Taz erschienen ist, ihren Weg in die Lehrpläne findet.

Kaum war Yaghoobifarahs Text erschienen, erstatteten die Deutsche Polizeigewerkschaft (DPolG) sowie die Gewerkschaft der Polizei (GdP) Anzeige wegen Volksverhetzung. Auch beim Deutschen Presserat wurden Beschwerden eingereicht, Politiker aller Parteien empörten sich über die Kolumne, genauer: über die letzten Sätze des Textes. Anstatt unterschiedliche Lesarten der Kolumne zuzulassen, wurde sie auf eine einzige Aussage vereindeutigt und verkürzt (eine Unsitte, die in allen politischen Lagern weit verbreitet ist): Polizisten würden mit Müll «gleichgesetzt» werden und somit angeblich in «ihrer Menschenwürde verletzt».

«Würde man in den Text an die Stelle von ›Polizisten‹, die mit Müll gleichgesetzt werden, andere gesellschaftliche Gruppen setzen, wäre die Reaktion derjenigen, die die Kolumne verteidigen, sicherlich eine andere», mokiert sich Michael Hanfeld in der FAZ und stellt sich dumm, indem er einen Konjunktiv verwendet.

Diese «anderen gesellschaftlichen Gruppen» werden ja bereits mit Müll gleichgesetzt. Nicht nur in den unzähligen Memes, in denen etwa Frauen, die eine Burka tragen, zwischen Müllsäcke platziert und derart mit Müll gleichgesetzt werden, sondern beispielsweise auch vom Vorsitzenden der AfD, Alexander Gauland, der, ganz deutscher Herrenmensch, einst die Deutsche Aydan Özoguz in Anatolien «entsorgen» wollte. Das Wort «entsorgen» ist nicht gerade mehrdeutig. Das hat die FAZ trotzdem nicht davon abgehalten, Alexander Gauland als Gast auf die Party zum 70-jährigen Bestehen der Zeitung einzuladen. Dass es außerdem ein Unterschied ist, ob ein Parteichef vom «Entsorgen» träumt und damit sehr deutlich macht, wie seine Politik aussehen wird, sollten er und seine Partei jemals an die Regierung kommen, oder ob das ein*e freie*r Journalist*in in einer satirischen Kolumne tut, sollte eine Selbstverständlichkeit sein, die hier nur deshalb betont wird, weil auch solche Selbstverständlichkeiten zu verschwimmen drohen.

Auch der Verweis auf die Regel «Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderem zu» ist an dieser Stelle das falsche Argument. Wenn man sich die Zumutungen ansieht, denen Teile der deutschen Bevölkerung seit Jahrzehnten ausgesetzt sind, müssen sich diejenigen, die hier die Ideale der Aufklärung in Stellung bringen, fragen lassen, ob das, was sie da einfordern, am Ende nicht tatsächlich eher in die christlichen Morallehre mündet, in der es heißt: «Wenn dich einer auf die linke Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin.»

So wie die permanente Konkurrenz der Menschen untereinander und der Zwang zur Verwertung jedes Einzelnen wie alles Zwischenmenschlichen zwingend in die Logik des kapitalistischen Systems eingeschrieben sind, so ist es außerdem in diesem System enthalten, dass die Menschen in der permanenten Bedrohung leben, als Überflüssige und damit sprichwörtlich als Müll wahrgenommen zu werden.

Dass die Kolumne - gerade jetzt, wo durch die gesellschaftlichen Krisen, die infolge der Pandemie sowie der heraufdämmernden Rezession und der absehbar nötigen Umstrukturierungen der Lebens- und Arbeitswelt im Hinblick auf den Klimawandel ausgelöst werden - mit Befürchtungen der Bevölkerungsmehrheit spielt, die Angst hat, selbst zu Überflüssigen zu werden, hat vermutlich seinen Teil zur überproportionalen Aufregung beigetragen, die es um diesen Text gibt. Hengameh Yaghoobifarah muss sich deshalb die Frage gefallen lassen, ob er*sie die Hässlichkeiten des kapitalistischen Prinzips affirmiert, ebenso wie andere sich der Kritik stellen müssen, Sexismus und Rassismus zu affirmieren.

Barbara Junge, die Chefredakteurin der Taz, sah sich durch die vermeintliche «Verletzung der Menschenwürde» bemüßigt, sich in ihrer ersten Stellungnahme für den Text zu entschuldigen. Dabei verwies sie auf einen «lange schwelenden Konflikt in der Taz» darüber, «wie stark der subjektive Blick, wie stark Diskriminierungserfahrung den Journalismus prägen soll oder darf». Womit es dann nicht mehr um den Text als solchen ging, sondern um das, was «Identitätspolitik» genannt wird, über deren Sinn und Unsinn in Deutschland seit längerem heftig gestritten wird.

Jetzt kann man die Identitätslogik, die zur Verteidigung von Yaghoobifarah ins Feld geführt wird und auch von ihr*ihm selbst regelmäßig bedient wird, in ihren Annahmen falsch finden, sollte dabei aber nicht übersehen, dass diese vor allem eins ist: zutiefst deutsch. Die gefährliche Gemengelage, die zur Konstruktion eines gefühlig-identitären «Wir» mittels mythisch aufgeladenem Kulturessentialismus und Wurzelvorstellungen geschaffen wird, die immer einer Blutslogik folgen, hat ihren Ursprung in der deutschen Romantik und ist bis heute eine beliebte Denkfigur, nicht nur beim «Wir» der «Bild»-Zeitung. Auch und gerade bei Anhänger*innen der Grünen und in der Taz-Redaktion waren, lange bevor Hengameh Yaghoobifarah auftauchte, kulturrelativistische Haltungen als theoretische und methodologische Grundlage anerkannt.

Bei allen Schwierigkeiten, die die Grundannahmen einer Identitätspolitik mit sich bringen, gilt es festzuhalten, dass die Geschichte der so᠆zialen Bewegungen auch eine Geschichte von Identitätspolitik ist. Niemand würde heute bezweifeln, dass es der Selbstorganisation von LGBTI als Schwulen- und Lesbenbewegung bedurfte, um die gleichen Rechte wie heterosexuelle Menschen zugestanden zu bekommen. Ein Kampf, der mit der Ehe für alle nicht abgeschlossen ist und dessen bisherige Errungenschaften permanent davon bedroht sind, wieder zurückgenommen zu werden.

Betrachtet man die Geschichte der feministischen Bewegung, zeigt sich, wie alt der Streit um Identitätspolitik ist: Als sich in München 1918 die Räterepublik gründete, wurde zwar das Frauenwahlrecht eingeführt, eigens gebildete Frauenräte zur formalen Repräsentation von Frauen, die gleichberechtigt neben den Arbeiter-, Soldaten-, und Bauernräten in den politischen Entscheidungsprozess eingebunden sein sollten, wurden jedoch von der Mehrheit der männlichen Revolutionäre abgelehnt.

Und wer meint, Identitätspolitik deshalb kritisieren zu müssen, weil sie vordergründig «nur» Vehikel zur Beförderung der eigenen Karriere sei, der müsste konsequenterweise ebenso fordern, alle Burschenschaften aufzulösen, sind das doch rein identitäre Karrierenetzwerke, zu welchen nur Männer Zutritt haben und wo über Jahre hinweg darüber gestritten wird, wer «deutsch» genug für ihre Studentenverbindungen ist.

Der Streit um Identitätspolitik verstellt den Blick auf die Identität, um die es allen Beteiligten eigentlich geht: die Identität von Hengameh Yaghoobifarah selbst. In ihr*ihm als Person überschneiden sich identitäre Fremdzuschreibungen mit selbstgewählter Eigendefinition in einer schillernden Art und Weise, die es erlauben, von ihm*ihr als «Gesamtkunstwerk» zu sprechen, so wie es Künstler wie Jonathan Meese ganz selbstverständlich für sich in Anspruch nehmen.

Die Bühne ist dann im Fall von Yaghoobifarah keine Kunsthalle und auch kein Theater, sondern Twitter: ein Ort, der vom Kulturbetrieb eher als eine Art erweiterter Presse- und Echoraum und eben nicht als eigenständiger Kulturort mit ganz eigenen Kunstformen wahrgenommen wird. In der Performance, die Yaghoobifarah dort inszeniert, tritt eine Verweigerungshaltung gegenüber den Normvorstellungen und Verhaltensregeln, die diesem Deutschland eingeschrieben sind, neben die selbstverständlich genutzten Möglichkeiten und Freiheiten, die dieses Deutschland anzubieten hat. Eine Provokation auf vielen Ebenen.

Es zeigt sich, dass das Verständnis von Kunst hierzulande ebenso beschränkt ist wie das von Satire: Wenn nicht in großen Lettern darübersteht «Vorsicht, Kunst!» beziehungsweise «Vorsicht, Satire», wird es von vielen schon nicht mehr als solche verstanden.

Es bleibt also zu hoffen, dass die Kolumne «All cops are berufsunfähig» sowie der anschließende Streit darum im Museum und den Lehranstalten landet. Allein die gesellschaftliche Diskussion, die durch diesen Text bisher angestoßen wurde - vom Beweis der Notwendigkeit der Geisteswissenschaften über medienübergreifende Bemühungen um korrektes Gendern bis hin zu einer Wiederbelebung der Debatte rund um Polizeigewalt und rechtsextreme Strukturen innerhalb staatlicher Organe - macht «All cops are berufsunfähig» museumswürdig.

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