Prekär, versoffen, Berlin!

Nina Bußmanns »Dickicht« ist ein abgründiges Bild der Großstadt

  • Björn Hayer
  • Lesedauer: 3 Min.

Kaum eine andere Stadt erfreut sich in diesem Jahr einer derartigen literarischen Beliebtheit wie Berlin. Man denke an Thorsten Nagelschmidts »Arbeit«, ein vielschichtiges Porträt der nimmermüden nächtlichen Hauptstadt, oder Mariam Kühsel-Hussainis Roman »Tschudi« über dessen vitales Kulturleben in den Salons und Museen um 1900. Hinzu kommt nun auch Nina Bußmanns jüngstes Prosawerk »Dickicht«, das sich um eine ähnlich allumfassende Szenografie bemüht.

Knotenpunkt ihres Berlins ist Ruth, die nach einem Sturz im Krankenhaus erwacht. Sie umgibt ein ganzes Heer bemühter Helfer und Helferinnen, in deren Leben uns die 1980 in Frankfurt am Main geborene Autorin schlaglichtartig Einblicke verschafft. Wir treffen auf Trinkerinnen wie Sophie. Einst begann ihre Alkoholikerinnenkarriere mit einem Feierabenddrink, bis sie schließlich ihr gesamtes familiäres Umfeld mehr und mehr in den Abgrund der Co-Abhängigkeit zieht. Nur auf den ersten Blick scheint es dagegen Katja besser zu gehen. Sie zählt zu jenen Menschen in pseudoschick klingenden Start-Up-Beschäftigungen, welche sich bei genauerem Hinsehen als höchst prekäre Arbeitsverhältnisse entlarven.

Was alle Figuren Bußmanns eint, ist ihre Strategie des Vor-Sich-Hinwurstelns, ihre Gestaltung der reinen Gegenwart ohne längerfristige Zukunftsperspektive. Damit sie nicht an der Welt verzweifeln, flüchten sie sich in Hilfegruppen, lehnen sich an okkulte Gurus an oder ergehen sich in politischem Aktivismus. Aber meistens verspricht ihnen der Rausch Abwechslung. Ganz getreu der ironisch flankierten Leitphrase: »Der Schlüssel zur Gesundheit ist Ausgeglichenheit.« Dass solcherlei Etiketten nur darunter liegende Unwägbarkeiten, ja, manifeste Depressionen kaschieren, versteht sich von selbst und fügt sich in die bisherigen Arbeiten der Autorin ein. Sei es ihr Debüt »Große Ferien« (2014) oder ihr zweites Buch »Der Mantel der Erde ist heiß und teilweise geschmolzen« (2017) - immerzu verhandeln ihre Storys Ungesagtes, Verschwundenes, Geheimnisse jenseits der oftmals grotesken Oberfläche der menschlichen Existenz. Erneut verschlägt es uns in die Dunkelzonen der Seele, mit deren Ängsten und deren Scham. Doch nicht nur darin besteht das Anliegen von »Dickicht«. Im Vordergrund steht diesmal noch mehr der Entwurf eines Großgemäldes des urbanen Lebens Döblinschen Ausmaßes samt seiner Widersprüche, Bunt- und Überdrehtheiten.

Als eine literarische Großtat kann man den Roman dennoch nicht bezeichnen. Denn es mangelt ihm an Schlagkraft auf allen Ebenen. Zwar vermag Bußmann unterschiedliche Stillagen einzusetzen, um den zahllosen Perspektiven ihres Werks gerecht zu werden. Über die größtenteils bilderarmen Sätze, die schnöden, vor sich hinplätschernden Aus- und Abschweifungen täuscht dieser Versuch einer Variation allerdings nicht hinweg. 150 Seiten weniger und dafür ein Mehr an rhetorischem Einfallsreichtum und Formentwicklung hätten dem Text gut getan.

Nina Bußmann: Dickicht. Suhrkamp. 300 S., geb., 24 €.

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