Rückhalt für Chiles Präsidenten bröckelt

Sebastián Piñera kann die Reihen seiner rechten Regierungskoalition im Rentenstreit nicht zusammenhalten

  • Jürgen Vogt, Buenos Aires
  • Lesedauer: 3 Min.

Für Chiles Präsidenten Sebastián Piñera war es die nächste schallende Ohrfeige. Zum zweiten Mai innerhalb einer Woche verweigerten ihm Abgeordnete aus seiner Regierungskoalition im Kongress die Gefolgschaft. Und dieses Mal ist es eine persönliche Niederlage des Präsidenten. Denn mit intensiven Gesprächen hatte Piñera versucht, die Abweichler wieder auf Linie zu bringen.

Bei der erneuten Abstimmung im Abgeordnetenhaus über die von Piñera abgelehnte Einmalzahlung aus den privaten Rentenfonds kamen die entscheidenden Ja-Stimmen wieder aus dem Regierungslager. Acht aus der rechtsliberalen Renovación Nacional (RN) und fünf aus der pinochettreuen Unión Demócrata Independiente (UDI) und damit den zwei stärksten Koalitionsparteien.

Konkret geht es dabei um eine Einmalzahlung aus den privaten Rentenfonds. So sollen sich alle Beitragszahler*innen bis zu zehn Prozent ihrer bisherigen Einlagen auszahlen lassen können, als Hilfe gegen die Folgen der Pandemie. Schon vor einer Woche war der Vorschlag im Abgeordnetenhaus angenommen worden. Da aber für die Umsetzung die Verfassung geändert werden muss, musste abermals eine Drei-Fünftel-Mehrheit zustimmen. Von den 155 Abgeordneten stimmten 95 dafür, 36 votierten dagegen, 22 enthielten sich, zwei Abgeordnete waren abwesend. Jetzt geht der Vorschlag in den Senat.

Präsidentensprecherin Karla Rubilar sprach von »einem harten Rückschlag«, schloss aber Rücktritte aus und kündigte an, im Senat für eine Ablehnung zu kämpfen. Wie der entscheidet, ist offen. Innenminister Gonzalo Blumel machte jedenfalls auf Optimismus. »Wir vertrauen darauf, dass der Senat den Fehler der Abgeordnetenkammer korrigiert«, so Blumel. Dagegen fliegen in den Koalitionsparteien schon längst die Fetzen. Die UDI-Vorsitzende Jacqueline van Rysselberghe drohte den Abtrünnigen mit dem Parteiausschluss.

Politisch geht es um einen Grundpfeiler des in der aus der Diktatur stammenden Verfassung festgeschriebenen neoliberalen Modells. Die privaten Rentenfonds wurden 1982 während der Militärdiktatur von Augusto Pinochet von dessen Arbeits- und Sozialminister, José Piñera, eingerichtet, einem Bruder von Präsident Sebastián Piñera. Seither zahlen die Beschäftigten monatlich zehn Prozent ihres Bruttoeinkommens ein. Eine staatliche Rentenversicherung gibt es nicht.

Den Vorschlag für die Auszahlung hatten die kleine linke Federación Regionalista Verde Social (FRVS) eingebracht. Wie brisant er ist, belegen die anonymen Morddrohungen die der FRVS-Vorsitzende Jaime Mulet via E-Mail erhalten hatte. »Dass sie dich mit dem Tod bedrohen und das mit ›Vaterland und Freiheit‹ unterschreiben ist erinnert an die schmerzhafte Geschichte der politischen Gewalt im Land«, so Mulet und bezog sich auf die blutige Militärherrschaft Pinochets.

In der Nacht vor der Abstimmung war es trotz der wegen der Corona-Pandemie verhängten nächtlichen Ausgangssperre zu heftigen Protestaktionen gegen den Präsidenten gekommen. Im Großraum von Santiago wurden vereinzelt Barrikaden errichtet, Autos in Brand gesteckt und Polizeistationen mit Steinen und Flaschen beworfen. An ihren Fenstern und auf den Balkonen schlugen zahlreiche Menschen auf Kochtöpfe und forderten die Zustimmung der Abgeordneten ein.

Seit Jahren wächst der Widerstand gegen diese Privatfonds, die mit Investmentfonds vergleichbar sind. Die Beitragszahlungen werden in Wertpapieren angelegt, aus deren Renditen die Renten und Pensionen gezahlt werden. Gleichzeitig kassieren die Verwalter*innen satte Gebühren. Wählen können die Einzahlenden lediglich zwischen den spekulativen Risiken von fünf Fonds. Je höher das Risiko, desto höher später die Auszahlung. Doch die liegt beim Großteil der Rentner*innen unter 380 Euro pro Monat.Sämtliche Versuche einer grundlegenden Reformierung sind bisher gescheitert.

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