Boom dubioser Corona-Medikamente

In Lateinamerika nutzen Geschäftemacher Unsicherheit und Falschinformationen aus

  • Knut Henkel
  • Lesedauer: 3 Min.

In Bolivien kursieren derzeit Fotos von Interimspräsidentin Jeanine Áñez mit einem Anhänger, auf dem »Virus ausgeschlossen dank Chlordioxid« zu lesen ist. In Brasilien ließ sich Präsident Jair Bolsonaro bei der Einnahme des Malariapräparats Hydroxychloroquin ablichten. Zwei Beispiele, die für die Hilflosigkeit im Kampf gegen das Coronavirus stehen und auch für den wenig kritischen Umgang mit Präparaten. Dies ist Teil der Realität (nicht nur) in Lateinamerika, wo die Infektionszahlen nach oben gehen und die Prognosen den Höhepunkt der Pandemie erst für Mitte August voraussagen. Wobei solche Schätzungen schnell wieder Makulatur sein können, wie die letzten Wochen zeigten.

Parallel dazu haben kritische Journalisten alle Hände voll zu tun, um Falschmeldungen im Netz aufzudecken und richtigzustellen. Dazu gehört das Internetportal »Verificado« aus Mexiko, das Mitglied eines Netzwerks von Redaktionen ist, die Falschinformationen von Politikern, anderen einflussreichen Personen des öffentlichen Lebens sowie Medien aufspüren. Davon gibt es viele: Ein Artikel in der Provinzzeitung »El Horizonte« aus dem Bundesstaat Nueva León über den Mediziner Héctor Villarreal, der einen Medikamentencocktail gegen das Coronavirus anpries, gehört genauso dazu wie die Behauptung, dass kreditkartengroße Anhänger mit Chlordioxid eine Infektion verhindern. Die chemische Verbindung ist auch als Bleichmittel im Einsatz.

»Über Chlordioxid und dessen Wirksamkeit wird auch in Ecuador gestritten«, sagt Juan Cuvi. Der Direktor der Gesundheitsstiftung Donum mit Sitz in Cuenca im Süden des Landes, der selbst mit dem Coronavirus infiziert ist, aber keine starken Symptome hat, plädiert angesichts der Pandemie für einen Umbau des Gesundheitssystems mit flächendeckender Versorgung sowie einen rationaleren Umgang mit dem Virus. Mehr Information vonseiten der Regierung, mehr Transparenz und das systematische Dementieren von Falschinformationen durch die Gesundheitsbehörden gehören für ihn dazu.

Doch das ist in Lateinamerika selten, was dubiose Unternehmer nutzen. Sie werben etwa für das Mittel MMS (Miracle Mineral Supplement), das Chlordioxid enthält und laut Anbieter vom bolivianischen Gesundheitsministerium empfohlen wird. Eine Fehlinformation, die aber in den sozialen Netzwerken die Runde machte. Ob die Mitte Juli erfolgte Anklage in den USA gegen einen 62-Jährigen, der für MMS warb, daran etwas ändert, bleibt abzuwarten.

Medikamente wie das zeitweilig von US-Präsident Donald Trump und derzeit von Jair Bolsonaro eingenommene Malariamittel Hydroxychloroquin werden von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) nicht für die Therapie von Covid-19-Patienten empfohlen. Der Grund sind Risiken für Patienten mit Herzerkrankungen. Auch ein neues russisches Medikament namens Avifavir gehört zu den Präparaten, die beworben werden, obwohl weder klinische Studien noch eine WHO-Empfehlung vorliegen. Der Grund für den Erfolg solcher dubiosen Mittel sind eine ängstliche und schlecht informierte Bevölkerung sowie völlig überforderte Gesundheitssysteme. Für Ivermectina, ein Präparat gegen Parasiten wie Darmwürmer, liegen laut WHO bisher keine Studien für die Wirksamkeit gegen Corona vor. Gleichwohl ist es in Peru, Bolivien und Teilen Brasiliens im Einsatz - mit Billigung der Gesundheitsbehörden. Das ist umso gravierender, da es in Lateinamerika immer wieder Fälle von Selbstmedikation mit negativen Gesundheitsfolgen gibt.

Für Claudia Vaca, Expertin an der Nationaluniversität Kolumbiens, ist der Run auf dubiose Präparate nichts anders als der Wunsch nach einem Wunder. Ein Beispiel aus der Millionenmetropole Cali: Bürgermeister Jorge Iván Ospina gab Anfang Juli Hunderte Dosen Ivermectina für Covid-19-Patienten frei, um »nicht untätig dazustehen, während sich die Krankheit ausbreitet«. Er verwies dabei auch auf positive Berichte aus Ecuador. Vor wenigen Tagen wurde er vom kolumbianischen Gesundheitsminister Fernando Ruiz zurückgepfiffen. Eine Wirksamkeitsstudie soll jetzt für Klarheit sorgen.

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