Demenz: Vom ersten Symptom bis zum Ende des Lebens

Berliner Projekte und Netzwerke unterstützen Menschen mit Demenz und deren Angehörige

Mit Musik Erinnerungen wecken: Therapie-Stunde in einer vom Unionhilfswerk betreuten Demenz-Wohngemeinschaft in Berlin-Neukölln
Mit Musik Erinnerungen wecken: Therapie-Stunde in einer vom Unionhilfswerk betreuten Demenz-Wohngemeinschaft in Berlin-Neukölln

Von 66 000 Menschen mit einer Demenzerkrankung weiß die Berliner Alzheimer-Gesellschaft derzeit. Nach Schätzungen für ganz Deutschland leben etwa zwei Drittel der Menschen mit einer solchen Diagnose noch in den eigenen vier Wänden, unterschiedlich versorgt. Oft versuchen An- und Zugehörige, das gemeinsame Leben so gut wie möglich zu organisieren. Aber es gibt auch Erkrankte, die irgendwie noch zu Hause leben und mit sehr wenig Unterstützung durch die Tage kommen.

Von Möglichkeiten, Ansätzen und Projekten, in einer solchen Situation zu helfen, handelte eine Fachtagung in der vergangenen Woche in Berlin. Unter dem Motto »Der Mensch im Mittelpunkt« wollte die Alzheimer-Gesellschaft Berlin auch auf Strukturen hinweisen, die teils schon bestehen. Vorgestellt wurden das Konzept der Caring Communities (etwa: sorgende Gemeinschaften) und das System der Pflegestützpunkte in Berlin.

Die Ausprägung der verschiedenen Krankheiten, die das Gehirn verändern und seine Funktionen – wie etwa das Gedächtnis – mindern, kann sehr unterschiedlich sein. Bei einer beginnenden Demenz stehen weder kognitive Einschränkungen noch eine Pflegebedürftigkeit im Vordergrund. Von einem regelrechten »Diagnoseschock« aber spricht Olaf Rosendahl. Er ist psychosozialer Berater und Projektmitarbeiter der Deutschen Alzheimer-Gesellschaft. Auf der Berliner Veranstaltung berichtet er über die »Mutmacher«. Das ehrenamtliche Projekt zur Erstbegleitung von Menschen mit einer beginnenden Demenz startete im April 2023.

Auch weil es bestimmte allgegenwärtige Stereotype von Demenzkranken gibt, ist die Erstdiagnose, die schon ab Mitte 30 und bis über das 90. Lebensjahr hinaus gestellt werden kann, besonders beängstigend. »Auf jeden Fall stehen diese Menschen am Anfang einer Erkrankung, die ihre ganze Lebensplanung in Frage stellt«, sagt Rosendahl.

Nach der Diagnose ziehen sich die Betroffenen oft in die eigene Häuslichkeit zurück, suchen Sicherheit in bestehenden Strukturen. Die ärztliche Versorgung kann unter schlechten Umständen abbrechen, oder »sie erfolgt nur schematisch«. Stigmatisierung durch die Umgebung oder die Betroffenen selbst verstärkt den Rückzug. Dann wieder Unterstützung aufzubauen, kann schwer sein. Die »Mutmacher« wollen helfen, den sozialen Ausschluss zu verhindern und Teilhabe zu erhalten. Dabei geht es nicht nur darum, die Menschen mit Demenz zu stärken, sondern auch ihre An- und Zugehörigen.

Bei dieser Form der Begleitung geht es nicht um Pflege, sondern um »Da-Sein auf Augenhöhe«, um das Interesse daran, was der oder die Andere braucht. Anfangs kann es laut Rosendahl auch darum gehen, »hinter den Ärzten aufzuräumen«. Das kann heißen, manche Zusammenhänge zwei- oder dreimal zu erklären. Gesprächsthemen sind, wie das Leben weiter gestaltet werden kann und wie Bindungen gestärkt werden können. »Sorgsam motivieren ist ganz wichtig«, betont Rosendahl. Es gebe durchaus verschiedenste Einrichtungen, in denen solche Prozesse nach einer Diagnose sehr gut begleitet werden, darunter auch Kliniken.

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Mithilfe der Begleitung soll die Krankheit verstanden und Umgang mit den Symptomen gefunden werden. Ein offenes Gespräch über künftige Entscheidungen gehört dazu, etwa um eine Versorgung in einem Heim zu erwägen. Für das Projekt wurde ein Curriculum mit zehn Modulen erstellt, dass einen Leitfaden für die Begleiter darstellt. Wenn im Schnitt zehn Gespräche geführt wurden, wechseln einige Betroffene zum Beispiel in eine Selbsthilfegruppe.

»Die ›Mutmacher‹ müssen aber über eine solche Schulung hinaus selbst weiter fachlich begleitet werden«, rät Rosendahl. Andererseits sollten sie nicht als Lückenbüßer verstanden und eingesetzt werden. Auch für diese Teilaufgabe, Menschen mit einer beginnenden Demenz gut zu unterstützen, gebe es eine gesellschaftliche Verantwortung. Die Alternative sei, nach Diagnose und Krankheitsbeginn zerstörte, teils Jahrzehnte alte familiäre und andere soziale Strukturen mühselig neu aufzubauen.

Gute Versorgung am Ende des Lebens ist für jeden Menschen wichtig, ebenso für Demenzkranke. Darüber spricht Dirk Müller vom Kompetenzzentrum Palliative Geriatrie des Unionhilfswerks. Dieser Träger der freien Wohlfahrtspflege mit Sitz in Berlin ist christlich orientiert. Müller verweist auf den Fachbegriff »total pain«. Dieser umfassende Schmerz trifft nicht nur Demenzkranke, sondern auch viele andere Menschen am Lebensende und hat soziale, physische und seelische Komponenten. Entsprechend sind die Bedürfnisse: Schmerzfreiheit, Respekt, Sicherheit und Ruhe, um nur einige zu nennen. Unter anderem in Hospizen wird darauf angemessen reagiert. »Wir können das große Leid etwas kleiner machen«, sagt Müller. Aber auch dafür müssen viele Bedingungen erfüllt sein, von der professionellen Pflege und ärztlichen Versorgung bis hin zum Beitrag von Angehörigen oder Ehrenamtlichen. Die Berliner Veranstaltung zeigte, dass es schon etliche sinnvolle Strukturen für Menschen mit Demenz gibt. Um diese zu sichern und auszubauen, braucht es weitere Debatten und politischen Einsatz.

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