Lernt Boris Johnson noch das Regieren?

Der britische Premier verliert an Ansehen

  • Ian King, London
  • Lesedauer: 4 Min.

Das erste Jahr des 56-Jährigen als Premier war ereignisreich: Im Herbst 2019 hatte Alexander Boris de Pfeffel Johnson das Parlament widerrechtlich nach Hause geschickt und wurde dafür vom Obersten Gericht gerüffelt. 21 Mitglieder wurden aus der Unterhausfraktion der Konservativen ausgeschlossen, darunter zwei Ex-Finanzminister. Bei vorgezogenen Neuwahlen im Dezember erreichte man trotzdem eine 80-Mandate-Mehrheit. Damit wurde der Brexit Ende Januar wie geplant durchgezogen. Von seiner langjährigen zweiten Ehefrau Marina wurde Johnson geschieden und von der 24 Jahre jüngeren Tory-Aktivistin Carrie Symonds mit dem Sohn Wilfred gesegnet. Von einer Covid-Erkrankung erholte sich der Premier mithilfe des Nationalen Gesundheitsdienstes, am vergangenen Dienstag führte er die erste Präsenzsitzung des Kabinetts seit Ausbruch der Pandemie durch. Im Sommer will er dann Carrie heiraten, das Ende der Pandemie und die Rückkehr zur Normalität verspricht er bis Weihnachten und einen Deal mit der EU eine Woche später.

Johnsons Erfolge müssen hinterfragt werden. Mit großen Sprüchen (»Get Brexit done« und neuerdings »Build, build, build«) trifft er immer wieder für eine Zeitlang die Stimmung eines Großteils des Publikums. Doch von einem vernünftigen Deal mit den 27 Ex-Partnern in der EU bleibt er meilenweit entfernt. Mit denen treibt Großbritannien immerhin fast die Hälfte seines Außenhandels.

Der Streit mit China über die Beteiligung des Konzerns Huawei am geplanten 5G-Netz zeigt, dass Johnson von seinem Freund Donald Trump als gehorsamer Schoßhund betrachtet werden darf: Denn der Hinauswurf der Chinesen hat nichts mit Unterdrückung von Demokraten in Hongkong oder eingesperrten Uiguren zu tun, sondern nur mit Folgsamkeit für den Herrn aus Washington. Für den vom US-Präsidenten den Briten versprochenen Deal des Jahrhunderts verspricht das nichts Gutes: Die großen Pharmakonzerne wollen sich am britischen öffentlichen Gesundheitsdienst bereichern, die Verbraucher erwartet das Fleisch von mit Hormonen gedopten Rindern und von Chlorhühnchen, beides in der EU verboten.

Als Bauherr hat Johnson ebenfalls Versprechungen, aber keine Bauten zu vorzuzeigen - weder vom neuen Flughafen an der Themse-Mündung, noch der Londoner Gartenbrücke oder gar der geplanten Landverbindung zwischen Schottland und Nordirland ist etwas zu sehen.

Auch der Wahlsieg gegen einen allgemein für regierungsunfähig gehaltenen Oppositionschef Jeremy Corbyn verliert an Glanz, nachdem sich Labour für den klugen ehemaligen Generalstaatsanwalt Keir Starmer als Nachfolger entschieden hat. Bei jeder parlamentarischen Fragestunde lässt Starmer seinen Gegenspieler Johnson unvorbereitet, zornig-bockig und kindisch aussehen. In Umfragen liegt Starmer bei Fragen zu fast allen Eigenschaften der Politiker - vor allem bei Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit und Durchsetzungsfähigkeit - klar vor Johnson. Auch konservative Hinterbänkler geben hinter vorgehaltener Hand über den autoritären Chef zu: Bei Boris ist der Lack ab.

Die Schwächen des Premiers haben sich am deutlichsten in der Coronakrise gezeigt. Statt dem Rat der Weltgesundheitsorganisation zu folgen, ließ er das Programm zum Testen und Nachverfolgen von Infektionen wochenlang links liegen, vertraute auf Herdenimmunität; darauf, dass die Pandemie von selbst eingeht - schade nur um die vorher Gestorbenen. Kneipen und Läden, Fußballstadien und Rennplätze blieben so mindestens zehn Tage zu lang geöffnet. Bei Krankenhausbesuchen gab der Premier demonstrativ jedem Arzt die Hand, so dass er, wie sein Gesundheitsminister Matt Hancock und sein Chefberater Dominic Cummings, selbst erkrankte. Als Cummings entgegen den Bestimmungen mit kranker Ehefrau und Kleinkind 400 Kilometer im Auto zu den Eltern nach Durham fuhr, wurde Johnsons kahle Eminenz nicht entlassen, sondern durfte im Garten der Downing Street eine Pressekonferenz zu seiner Verteidigung abhalten. Der Premier hält Cummings mangels eigener politischer Ideen für unentbehrlich.

Das ließ beim Rest der Bevölkerung die Stimmung kippen: Die Parole »Eine Regel für die Großkopfeten, eine andere für uns« machte die Runde. Die Abstandsregeln wurden nun allgemein zunehmend missachtet, mit gefährlichen Folgen. Sogar nach den von der Regierung geschönten Zahlen sind über 45 000 Briten an Covid verstorben, mehr als ein Drittel davon in vom Premier sträflich vernachlässigten Pflegeheimen. Nichtweiße Minderheiten und Gesundheitspersonal hatten besonders zu leiden, unter anderem, weil es Johnson nicht schaffte, für sie genügend Schutzkleidung und Masken zu beschaffen.

Doch jetzt fallen die Ansteckungszahlen, das Volk geht wieder zur Arbeit, die Sonne scheint, Boris wird neue Straßen und Krankenhäuser bauen lassen. Alles klar? Nicht ganz: Das Bruttosozialprodukt fiel auf dem Tiefpunkt der Covidkrise um ein Viertel, Volkswirte rechnen mit drei Millionen Arbeitslosen, dazu kommt der Brexit-Schock. 70 Prozent der Briten halten eine zweite Pandemiewelle im kommenden Winter für wahrscheinlich. Außer Starmer hat sich eine weitere Politikerin durch kluges Handeln in der Krise bewährt: Schottlands Premierministerin Nicola Sturgeon, die die Trennung von Großbritannien will und dafür derzeit eine Mehrheit ihrer Landsleute hinter sich weiß.

Gut gebrüllt, Boris Johnson. Doch das Regieren will erst noch gelernt sein.

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