Pfefferspray auf Minderjährige

Polizei bilanziert die Corona-Auseinandersetzungen in Göttingen. Rote Hilfe wirft den Beamten Gewalt vor

  • Reimar Paul
  • Lesedauer: 3 Min.

13 Ermittlungsverfahren, 36 Tatverdächtige, elf verletzte Beamte sowie »eine lange Liste« von Straftatbeständen: Gut sechs Wochen nach den heftigen Auseinandersetzungen zwischen Bewohnern eines unter Corona-Quarantäne stehenden Wohnblocks in Göttingen und der Polizei hat die danach eingesetzte Sonderkommission jetzt eine vorläufige Bilanz vorgelegt. Gleichzeitig erneuern linke Gruppen ihre Kritik an »massiver Gewalt« der Polizei. Der Solidaritätsverein Rote Hilfe prangert unverhältnismäßige Ermittlungsmethoden an und ruft zu politischer und finanzieller Unterstützung der von Strafverfahren betroffenen Personen auf.

In den als soziale Brennpunkte geltenden Hochhäusern hatten sich etwa 120 Menschen mit dem Coronavirus infiziert. Die niedersächsische Stadt Göttingen ordnete daraufhin am 18. Juni für die rund 700 gemeldeten Bewohner Tests an und verhängte eine Ausgangssperre. Unter ihnen sind viele Hartz-IV-Empfänger und Migranten. Auch etwa 200 Kinder und Jugendliche leben dort äußerst in prekären Verhältnissen. Für knapp 600 Bewohner übernimmt die Stadt die Mietkosten.

Alle durften die Gebäude für eine Woche nicht verlassen, die Zugänge zu dem Komplex wurden verschlossen. Zwei Tage später eskalierte die Situation: Mehrere Dutzend der eingesperrten Bewohner rüttelten an den Absperrungen und bewarfen Polizisten mit Gegenständen, Beamte setzten Tränengas ein. Zeitgleich demonstrierten etwa 250 junge Leute in unmittelbarer Nähe der Gebäude gegen »Mietenwahnsinn«.

Wie die Polizei am Montag mitteilte, wurden inzwischen Ermittlungsverfahren wegen schweren Landfriedensbruchs, tätlichen Angriffs auf Polizeivollzugsbeamte, gefährlicher Körperverletzung, Beleidigung, Sachbeschädigung, versuchter gefährlicher Körperverletzung, versuchter schwerer Brandstiftung sowie wegen Verstößen gegen das Sprengstoffgesetz eingeleitet. Ermittelt werde derzeit gegen 36 Tatverdächtige, von denen 25 von der Sonderkommission sicher identifiziert worden seien. »Die Identifizierung weiterer Tatverdächtiger dauert an«, sagte eine Polizeisprecherin.

Ihren Angaben zufolge wurden bei den Ausschreitungen insgesamt elf Polizeibeamtinnen und -beamte verletzt. Drei von ihnen seien vorerst nicht mehr dienstfähig gewesen. Die Betroffenen seien unter anderem von Pflastersteinen getroffen oder mit Gegenständen, wie beispielsweise Metallstagen, beworfen worden.

Der Göttinger Polizeichef Uwe Lührig kündigte zudem eine »gesonderte rechtliche Prüfung« des Verhaltens von Demonstranten an, die Beifall geklatscht hätten, als die Einsatzkräfte beworfen und verletzt wurden. »Bei allen Differenzen, die es zwischen Polizei und Demonstranten geben mag, haben auch die Einsatzkräfte ein Mindestmaß an Respekt und Achtung verdient«, erklärte Lührig. Denn sie setzten sich nach seiner Ansicht jederzeit für die Sicherheit der Bürger sowie den Bestand von Demokratie und Verfassung ein.

Daran hegt der Solidaritätsverein Rote Hilfe durchaus Zweifel. Die Polizei habe am 20. Juni Pfefferspray auch gegen Kleinkinder eingesetzt, Demonstranten seien äußerst »gewaltvoll« festgenommen worden. Auch in den Folgetagen seien Beamte in die abgesperrten Wohnblöcke eingedrungen, um einzelne Bewohner festzunehmen, heißt es vonseiten der Roten Hilfe.

Überhaupt sei die für die Hochhäuser verhängte Voll-Quarantäne unverhältnismäßig gewesen. Die Stadtverwaltung sei organisatorisch zudem nicht in der Lage gewesen, die Versorgung der Bewohner sicherzustellen. »Stattdessen wurde versucht, die Betroffenen mit Polizeigewalt einzuschüchtern und buchstäblich für Ruhe zu sorgen«, sagte ein Sprecher der Roten Hilfe. Die Initiative fordert »komplette Straffreiheit für alle Betroffenen«, weil die Situation erst durch den unrechtmäßigen Polizeieinsatz entstanden sei.

Selbst die Göttinger CDU-Ratsfraktion bemängelt inzwischen die Wohn- und Mietsituation in den betreffenden Gebäuden. Jedes Jahr überweise die Stadt rund eine Million Euro direkt auf die Konten der Vermieter. Sie halte damit - wenn auch ungewollt - ein System aus Immobilienspekulationen und Profitmaximierung am Leben.

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