Krise als Geschäft

Die Explosion in Beirut und ihre Folgen zeigen, wer alles vom maroden Staatsapparat im Libanon profitiert.

  • Philip Malzahn
  • Lesedauer: 5 Min.

Seit Jahren und ziemlich regelmäßig gerät der Libanon mit dramatischen Neuigkeiten in die Schlagzeilen. Zuletzt im Oktober 2019: Der Versuch der Regierung, eine Steuer auf Onlinedienste wie WhatsApp zu erheben, um eine drohende Staatspleite zu vermeiden, führte zu massiven Protesten und schließlich zum Rücktritt der Regierung unter Premierminister Saad Hariri. Doch was manche als die größte soziale Bewegung in der Geschichte des Landes bezeichnen, war nur die Zuspitzung einer Krise, die sich schon über Jahre hinweg verschärft hatte.

Deren Kern sei die wachsende Ungerechtigkeit zwischen Arm und Reich, sagt der Politikwissenschaftler und Libanonexperte Joseph Daher: »Zwischen 2010 und 2016 stagnierten oder sanken die Einkommen der ärmsten Haushalte. Nur ein Drittel der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter hatte einen Arbeitsplatz, die Arbeitslosigkeit der unter 35-Jährigen lag bei 37 Prozent. Zwischen 40 und 50 Prozent der libanesischen Einwohner hatten keinen Zugang zu Sozialhilfe.« Gleichzeitig seien die Reichen immer reicher geworden: »Zwischen 2005 und 2014 kassierten die reichsten zehn Prozent durchschnittlich 56 Prozent des Nationaleinkommens.«

Als Folge jener WhatsApp-Proteste wurde im Januar 2020 eine neue »Technokratenregierung« unter Premier Hassan Diab vereidigt, die das Land aus der Krise führen sollte. Dann aber kam Corona, und die Wirtschaft brach endgültig zusammen. Seit Ende 2019 ist die Nachfrage nach US-Dollar dermaßen hochgeschnellt, dass die amerikanische Währung auf dem Schwarzmarkt für mehr als das Sechsfache des offiziellen Kurses gehandelt wird. Derweil hält die Zentralbank am Kurs von 1500 Lira pro US-Dollar fest. Da Libanon zu etwa 80 Prozent von Lebensmittelimporten abhängig ist, haben sich die Preise mindestens verdoppelt.

Dies ist die Situation, in der sich die furchtbare Explosion vom 4. August ereignet hat: Die meisten Menschen im Land wussten ohnehin schon kaum noch weiter. Im Hafen von Beirut gingen etwa 2,7 Millionen Kilogramm Ammoniumnitrat in die Luft, die dort seit Jahren unsachgemäß gelagert wurden. Die unmittelbaren Folgen sind 170 Tote, 6000 Verletzte und geschätzte 300 0000 Menschen, die plötzlich ihr Obdach verloren. Die wütende Reaktion der Bevölkerung, die seit Tagen auf die Straße geht und bereits den Rücktritt von Diabs Technokratenkabinett bewirkt hat, zeigen auch an, dass und warum dieses Land nicht zur Ruhe kommen kann - aber auch die Reaktionen der internationalen Politik.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron war der erste europäische Politiker, der Libanon nach der Tragödie besuchte. Zwischen den Trümmern umarmte er trauernde Libanesinnen und inszenierte er sich als Retter einer Bevölkerung, die zum Opfer einer korrupten Regierung geworden ist. Unter seiner Leitung wurden auf einer Geberkonferenz 250 Millionen Euro für akute Nothilfe eingesammelt. Die aber sollten, so Macron, keinesfalls an die korrupte Regierung gehen.

Zugleich sorgten Aussagen des französischen Präsidenten auch für Empörung. »Frankreich wird den Libanon niemals loslassen«, verkündete er, was ihm im Land den Spitznamen Macron Bonaparte einbrachte. Denn die Dauerkrise im ehemaligen Protektorat Frankreichs hängt - bis hin zur Etablierung der korrupten Regierungen - durchaus mit der Politik des Westens zusammen.

1989 wurde der fast 15 Jahre andauernde Bürgerkrieg mit den Abkommen von Taif offiziell beendet. Das damals geschaffene konfessionsgebundene politische System hat seinen Ursprung im 19. Jahrhundert. Es sollte eine befriedende Balance zwischen den einzelnen Religionsgruppen schaffen, weist aber erhebliche Mängel auf. Der Staatspräsident muss Christ sein, der Ministerpräsident Sunnit und der Parlamentssprecher Schiit. Doch basiert diese Machtteilung auf der letzten demografischen Erhebung im Libanon, sage und schreibe aus dem Jahr 1932.

Obwohl es kaum zuverlässige Daten gibt, weiß man: Die damalige Minderheit der Schiiten ist heute die größte Bevölkerungsgruppe. Die Hisbollah wiederum ist die größte schiitische Organisation. Sie ist ein hybrider Akteur mit einem militärischen, zivilen und politischen Flügel. Mal agiert sie als Miliz, mal als zivilgesellschaftliche Kraft - und nebenbei zweitstärkste Kraft im Parlament. Unterstützt wird die Hisbollah aus Teheran; im Nachbarland Syrien ist sie wichtige Kriegspartei. Über Jahre konzentrierte sich die westliche Libanon-Politik darauf, den wachsenden Einfluss Irans über die - auch hierzulande als Terrororganisation verbotene - Hisbollah zu beschränken, etwa durch wirtschaftliche Sanktionen gegen ihre Funktionäre, aber auch gegen das Nachbarland Syrien.

Funktioniert hat all das nicht. Im Gegenteil hat die Hisbollah in den vergangenen Jahrzehnten einen rasanten Aufstieg erlebt. Heute sei sie, sagt der Experte Daher, ein um so festerer Bestandteil des »kapitalistischen und konfessionsgebundenen Systems im Libanon«. Sie kooperiere »mit wichtigen Familien, Stämmen und bürgerlichen Clans«. In vielerlei Hinsicht stärke die Hisbollah »die bestehende Ordnung, nämlich ein System, das mehr auf primären Identitäten - Familie, Sekten, politische Partei - als auf sozialen Rechten beruht.« Deshalb habe sie letztlich vor allem zum Ziel, das »konfessionsgebundene und neoliberale System« zu erhalten.

Der internationale Versuch, die Hisbollah zu isolieren, hat eher das Gegenteil bewirkt. Christen und Schiiten haben sich angenähert. Gerade in jüngeren Jahren schürte die Aufnahme von über einer Million - großteils sunnitischen - syrischen Kriegsflüchtlingen in dem kleinen Land die christliche wie schiitische Angst vor einer Verschiebung der demografischen Kräfteverhältnisse.

Die derzeitigen Proteste auf den Straßen Libanons richten sich dezidiert gegen das System als Ganzes. Wie Emmanuel Macron hat auch der deutsche Außenminister Heiko Maas seine Unterstützung für die Bestrebungen der Menschen geäußert. »Das Land braucht jetzt einen kraftvollen Aufbruch und es braucht tiefgreifende wirtschaftliche Reformen«, sagte Maas jüngst vor seinem Flug nach Beirut. Welche Art von »Reformen« im Libanon tatsächlich dringlich sind, bleibt dabei offen. Klar ist hingegen, dass das viele Geld, das seit Jahren und nun wieder als humanitäre oder Entwicklungshilfe ins Land gespült wird, höchstwahrscheinlich in den Händen eines korrupten Systems landet - in das sich auch ein Akteur wie die Hisbollah gut eingefügt hat - nicht zuletzt wegen ihrer internationalen Isolierung.

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