Bolsonaro hat System

Die emigrierte Intellektuelle Marcia Tiburi beschreibt strategische Fehler der brasilianischen Linken, veranschaulicht die Wirksamkeit von Fake News und erklärt, warum sie von »Turbofaschismus« spricht

  • Anselm Weidner und Mario Schenk
  • Lesedauer: 11 Min.

Die brasilianische Philosophin und bildende Künstlerin Marcia Tiburi, geboren 1970, hat sechs Romane und zahlreiche Sachbücher veröffentlicht. Sie engagierte sich zuletzt in der Partido dos Trabalhadores (PT, Partei der Arbeiter) und hat Ende 2018 aufgrund von Morddrohungen das Land verlassen. Heute lebt sie in Paris.

Ende 2018, kurz vor dem Amtsantritt des neuen Präsidenten Jair Bolsonaro, sind Sie ins Exil gegangen. Weshalb?

In Brasilien war ich eine in der Öffentlichkeit stehende Person. Ich wirkte aktiv in der Zivilgesellschaft mit, schrieb viel zitierte Bücher über den aufsteigenden Rechtspopulismus und Autoritarismus. Bereits 2013 hatte ich vor einem Phänomen wie Bolsonaro gewarnt und verteidigte 2016 Dilma Rousseff beim Putsch gegen sie auch aus einer feministischen Position. Spätestens da geriet ich ins Fadenkreuz der Rechten. 2018 kandidierte ich dann für die Arbeiterpartei PT für den Gouverneursposten von Rio de Janeiro. In dem Wahljahr erhielt ich massenhaft Drohungen. Ich konnte nicht einmal mehr durch die Straßen gehen, ohne von Unbekannten beschimpft und belästigt zu werden. Ich brauchte Bodyguards. Mitglieder der rechten Bewegung Movimento Brasil Livre (MBL) stürmten meine Lesungen. Als im Vorfeld einer Lesung im November 2018 anonym mit einem Massaker gedroht wurde, betraf das nicht mehr nur mich selbst, sondern auch mein Umfeld. Irgendwann konnte ich nicht mehr arbeiten. Ich hielt es deshalb für notwendig, das Land zu verlassen. Nach Brasilien zurückzukehren, kann ich mir aktuell nicht vorstellen.

In ihren Texten beschreiben Sie den Aufstieg der extremen Rechten und deren Hass auf Minderheiten, Brasilien als polarisiertes, gespaltenes Land. War es das nicht schon immer?

Brasilien war lange Zeit eine Kolonie. Wenige Kolonisatoren machten sich die Bevölkerungsmehrheit untertan. Klassengegensätze und Rassismus gab es in Brasilien von Beginn an. Sie waren die Grundlage der Sklaverei. Der damit verbundene Hass trat bis Bolsonaro nicht mehr so offen zutage. Heute schürt ihn die Regierung. Die PT-Regierungen unter Lula da Silva und Dilma Rousseff wirkten gegen die gesellschaftliche Spaltung und für die Teilhabe aller an Arbeit und Bildung. Bolsonaro hingegen lebt von dieser Spaltung.

Das Schüren von Hass gegen Minderheiten und Abweichler zur Polarisierung der Gesellschaft ist typisch für rechtspopulistische und faschistische Politik. In Bezug auf ihr Heimatland sprechen Sie in einem ihrer jüngsten Aufsätze von »Turbofaschismus«. Was meinen Sie damit?

Ich verstehe darunter die vom Kapital geförderte massive technologische Aufrüstung im Internet, die den Einfluss der extremen Rechten um ein Vielfaches verstärkt. Im Faschismus von Italien, Spanien oder Deutschland vor fast 100 Jahren gab es Plakate, hier und da ein Radio, die Kinos. Das Fernsehen, das in Brasilien in den 1950er Jahren aufkam, hatte und hat eine fundamentale Bedeutung. Doch jetzt sind es die sogenannten sozialen Medien, die von Bolsonaro für die Faschisierung des Landes gekonnt genutzt werden, mit Fake News oder WhatsApp-Kampagnen. Damit können Menschenmassen in kürzester Zeit manipuliert und Stimmungen in der Bevölkerung politisch missbraucht werden. Das ist eine neue Qualität.

Aber machen das nicht andere rechtspopulistische autoritäre Regime von den USA bis Russland, Ungarn und Polen genauso?

Stimmt: Die USA, die Philippinen oder VOX in Spanien machen dasselbe. Die extreme Rechte operiert mit Feindbildern - der Schwarze, der Jude, die Frau - und setzt auf das Groteske, Unbeholfene. Bei der Wahl 2018 zeigte sich, dass gerade jene rechten Politiker gewählt wurden, die besonders absurde, hasserfüllte Dinge sagten. So behauptete Bolsonaro und zeigte entsprechende Fakefotos, der Präsidentschaftskandidat der PT, Fernando Haddad, verteile im Wahlkampf Babyflaschen mit Saugern in Penisform. Haddad wolle so Kinder frühzeitig zu Homosexuellen machen. Grotesk, peinlich, aber es funktionierte. Trump, Erdogan, Putin und Bolsonaro sind sich da sehr ähnlich. Sie benutzen populäre Vorurteile für die Identifikation der ignoranten Masse mit ihrer eigenen Person. Dieser Teil der Bevölkerung empfindet sie als einen der ihren.

Gibt es etwas, das den Fall Bolsonaro besonders macht?

Nicht wirklich, aber Bolsonaro steht in starkem Kontrast zu den immer noch vorherrschenden Klischees von Brasilien: das tropische, wunderschöne, friedliche Paradies, das fröhliche Land mit Sonne, Strand, Karneval und Caipirinha. Dieser Kontrast von Klischee und heutiger Wirklichkeit lässt Bolsonaro noch schockierender erscheinen. Und tatsächlich ist er schlimmer als die anderen prominenten Rechtspopulisten, in seinem Frauenhass, seinem Rassismus, seinem anti-aufklärerischen Auftreten. Die anderen sind pure Nationalisten, doch der Bolsonaro-Faschismus hat etwas Sadomasochistisches, wenn man sieht, wie unterwürfig er sich gegenüber den USA verhält.

Im ersten Jahr unter Bolsonaro stieg die Zahl der Polizeimorde landesweit um 13 Prozent, in Rio de Janeiro sogar um 23 Prozent. Wie erklärt sich dieser Gewaltexzess?

Die brasilianische Polizei mordet weltweit am meisten. Sie ist, ähnlich wie in den USA, extrem rassistisch. Sie ist das Ergebnis einer Politik, die die Polizei in eine Institution des Tötens verwandelte. Anders als in anderen Ländern ist sie staatlicher Kontrolle weitgehend entzogen und teilweise von paramilitärischen »Milizen« unterwandert.

Und wie steht es um die Justiz?

Unsere Justiz hat die - an sich richtige - Bekämpfung der Korruption politisch instrumentalisiert. Bei der »Operation Lava Jato« rund um den Ölkonzern Petrobras gab es rechtswidrige Verfahren bis hin zur Verurteilung von Lula ohne Beweise, um ihn als Präsidentschaftskandidaten auszuschalten. Die Justiz, allen voran der damalige Bundesrichter Sérgio Moro, hat die Korruptionsermittlungen als Waffe gegen die Linke eingesetzt. Während sie die Linke verfolgte, ging sie Verbrechen im rechten politischen Spektrum nicht nach; die sind nun verjährt. Der Justiz gelang es, die PT in weiten Teilen der Bevölkerung als die Partei der Korruption darzustellen. Ein solche politische Justiz ist Teil der brutalen Gewalt in Brasilien.

Was wissen Sie darüber, dass US-Stellen Weiterbildungen für Korruptionsermittler organisierten, bei denen es in Wahrheit um Regimechange ging? Sind das Verschwörungstheorien oder wollten die USA die PT-Regierung auf diese Weise loswerden?

Das ist keine Verschwörungstheorie. Man weiß heute, dass Richter Moro und einige Staatsanwälte in den USA geschult wurden. Mittlerweile berichtet die Presse über den US-Einfluss bei diesen Aktionen, auch beim Putsch 2016. Für viele steht fest, dass es in den letzten Jahren eine Infiltration der brasilianischen Innenpolitik durch die USA gab. Für mich war und ist Sérgio Moro ein US-amerikanischer Agent. Inzwischen ist er ja als Justizminister zurückgetreten und untergetaucht. Wahrscheinlich will er 2022 für die Präsidentschaft kandidieren und musste sich deshalb von Bolsonaro distanzieren.

Bolsonaro rief seine Anhänger wiederholt zum Kampf gegen das Parlament und den Obersten Gerichtshof auf - also zum Verfassungsbruch. Reicht das nicht für ein Amtsenthebungsverfahren?

Derzeit sind 48 Anträge auf eine Amtsenthebung anhängig; darunter sind erfolgversprechende, gut begründete Anträge wegen Amtsmissbrauch oder Anstiftung zu Verbrechen gegen staatliche Institutionen. Der konservative Präsident des Abgeordnetenhauses Rodrigo Maia sollte sie längst zugelassen haben. Doch er ist feige und Teil des Systems Bolsonaro. Der Bolsonarismus ist viel größer als er selbst. Er reicht vom Ex-Interimspräsidenten Michel Temer, der den Putsch gegen Rousseff anführte, über die ökonomischen Eliten und wichtige Teile der Medien bis hin zu konservativen und reaktionären Politikern wie Rodrigo Maia. Sie wurden mit Geld und Posten bestochen, um Bolsonaro zu unterstützen. Der Kongress wurde gekauft. Der wird nicht gegen Bolsonaro vorgehen.

Die Zustimmungswerte für den Staatschef liegen nach aktuellen Erhebungen bei 37 Prozent. Könnte ihn die Mehrheit nicht zu Fall bringen?

Bolsonaro hat eine Basis von gut 30 Prozent, das sind die überzeugten Faschisten. Fast alle evangelikalen Freikirchen sind auf seiner Seite, ebenso wie die meisten Unternehmer. Jüngsten Umfragen zufolge würde er heute wiedergewählt. Selbst von jenen, die unter seiner Politik leiden. Viele, die jetzt diese monatliche Corona-Zahlung von 600 Real (etwa 90 Euro) erhalten, sehen ihn ihm einen Gönner. Dabei hat er sich lange gegen diese Hilfe, die eine Initiative der parlamentarischen Linken war, gewehrt. Bolsonaro versteht es, die Tatsachen zu verdrehen und die Massen zu manipulieren.

Bolsonaro hatte angekündigt, die staatlichen Institutionen »zu zerstören«. Er schaffte das Arbeitsministerium ab, kürzte die Budgets des Umweltressorts und der Indigenenbehörde FUNAI um fast 90 Prozent. Welches Projekt verfolgt er?

Bolsonaro ist ein Opportunist. In seinen 27 Jahren als Abgeordneter hat er nichts zustande gebracht, keine einzige Gesetzesinitiative gestartet. Bei seinen Kollegen galt er als beschränkt. Niemand nahm ihn ernst. Die Brasilianerinnen und Brasilianer überhaupt haben ihn auf die leichte Schulter genommen. Im Wahlkampf hat man über ihn gelacht und nun sind viele erschrocken. Bolsonaro will vor allem anderen an der Macht bleiben.

Die Bilanz der Regierung Bolsonaro ist desaströs. Aus hiesiger Sicht bleibt es unverständlich, dass die PT trotz der Erfolge in ihrer Ära bei der Wahl vor zwei Jahren diesem »Beschränkten« unterlag.

Ich glaube, das hat mit den Erfahrungen in den Zeiten des Kolonialismus, der Sklaverei und der Militärdiktatur zu tun. Sie waren geprägt von der Kränkung und Unterdrückung der Massen. Die brasilianische Bevölkerung ist historisch gedemütigt. Ein großer Teil der Gesellschaft kämpfte stets mit diesem Gefühl der Minderwertigkeit. Bolsonaro gibt den Gekränkten eine Stimme, indem er ihre Wut kanalisiert. Ihm gelang es, dass sich diese Menschen mit ihm und seinem Aufstieg identifizieren konnten. Seine Person erlaubt denen mit wenig Selbstbewusstsein, den Marginalisierten, sich mit ihm über andere zu erheben. Je geringer die Selbstachtung, desto höher die Identifikation mit Bolsonaro. Darum gibt es unter seiner Anhängerschaft nicht wenige Schwarze, Frauen, Trans-Personen. Das ist der Schlüssel zum Verständnis des aktuellen Brasiliens. Die Identifikation mit dem eigenen Henker.

Darüber hinaus säte Bolsonaro Hass auf die PT, auf die Linke, auf die sogenannten Mainstreammedien, auf Demokraten, auf Intellektuelle, auf Wissenschaftler. Viele Kandidaten, die auf dieser Welle mitschwammen, sind gewählt worden.

Sie weisen den Medienkonzernen eine wesentliche Rolle beim Rechtsruck zu. Warum unternahm die PT-Regierung nichts gegen Fake-News- und Hetzkampagnen?

Die PT versäumte es, den Medienmarkt zu reglementieren. Das war ihr großer Fehler. Der Diffamierung und der Verbreitung von Fake News wurden kaum Grenzen gesetzt. Lula glaubte immer, dass der Medienkonzern Rede Globo auf seiner Seite stünde. Globo hatte bereits 1964 den Militärputsch unterstützt. Und würde es wieder tun. Derzeit führt Globo Auseinandersetzungen mit Bolsonaro. Wenn Globo will, dass Bolsonaro fällt, wird Bolsonaro fallen. Aber Globo hat daran kein Interesse, solange das Geschäft läuft. Die Linke an der Macht war naiv.

Warum verloren die Menschen ihren Glauben an das von der PT verfolgte Projekt einer gerechteren Gesellschaft?

Das liegt an einer langjährigen Medienkampagne zur Diffamierung der Arbeiterpartei. Zeitschriften und TV-Sender des Globo-Konzerns stellten Dilma Rousseff als Verrückte, Kranke dar. Es gibt keine rationalen Gründe für diese hasserfüllte Abkehr von der PT. Die hätte sich weiter nach links bewegen müssen, mit radikaleren Programmen zur Aufklärung. Die PT hat zu wenig in die Aufklärung der Bevölkerung investiert.

Wie ist ihre Prognose: Wird sich Bolsonaro bis zu den nächsten Wahlen 2022 an der Macht halten können?

Schlimmer noch: Bolsonaro wird sehr wahrscheinlich wiedergewählt, vorausgesetzt, die ökonomischen und konservativen Eliten lassen ihn nicht vorher fallen. Auch eine Amtsenthebung könnte die Wiederwahl verhindern. Aber die reichen Eliten, die Mehrheit der Abgeordneten und der Präsident des Abgeordnetenhauses Rodrigo Maia wollen Bolsonaro an der Macht halten. Brasilien ist ein Steuerparadies. Wer sehr vermögend ist, verdient dank Bolsonaro viel Geld. Er hat große Chancen, weiter zu regieren.

Sollten die Eliten Bolsonaro fallen lassen, ist dann mit einem Militärputsch zu rechnen?

Bolsonaro hat Tausende Militärs mit Posten bedacht, etliche zu Ministern gemacht. Sie sind sehr einflussreich. Einen Militärputsch könnte es geben, sollte Bolsonaro politisch unter Druck geraten oder sollte das Militär an Macht verlieren. Aber es besitzt nicht die Ressourcen, um eine Diktatur aufrechtzuerhalten. Die brasilianischen Streitkräfte sind finanziell ausgeblutet. Sollten sie allerdings von den USA unterstützt werden, die aktuell gegen Venezuela vorgehen, könnte Brasilien für einen Krieg gegen Venezuela instrumentalisiert werden. In dem Fall wäre ein Vormarsch des militärischen Autoritarismus vorstellbar.

Die Kommunalwahlen im November 2020 gelten als wichtiger Stimmungstest. Die PT verzichtet in manchen Städten auf eigene Kandidaten zugunsten breiter linker Bündnisse. In São Paulo beispielsweise haben sich mehrere Parteien auf Guilherme Boulos von der sozialistischen PSOL geeinigt. Könnte das ein Weg sein, Bolsonaro 2022 zu schlagen?

Auch ich unterstütze die Kandidatur von Boulos. Ein breites Bündnis linker Parteien und sozialer Bewegungen ist der richtige Weg. Nicht nur, um mehr Prozente zu holen. Das ist auch symbolisch ein wichtiger Akt. Wenn die Linken nun von unten, also über die Gemeindewahlen, wieder eine stärkere Rolle in lokalen Parlamenten und Rathäusern spielen, können sie Impulse für eine andere Politik setzen und das Vertrauen von Teilen der Bevölkerung zurückgewinnen. Mit demokratischen Rathäusern und Gemeinderäten könnten wir eine Wende vorbereiten. Aber bis dahin wird viel zerstört sein.

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