So ein Pass wäre schon was Feines

Der Khan-Report: Was soll überhaupt besonders daran sein, deutsch zu sein, fragt sich Ayesha Khan

  • Ayesha Khan
  • Lesedauer: 4 Min.

Einigkeit und Recht und Freiheit - und wie jedes Jahr frage ich mich: Was hat das jetzt eigentlich mit mir zu tun? 30 Jahre Deutschland. Also knapp über 30 Jahre bin ich schon in Deutschland. Was für ein Zufall. Ich weiß noch, wie wir in der Schule immer wieder das Grundgesetz bekommen haben und jedes Mal die Nationalhymne singen mussten. Ich habe nie verstanden warum, aber war immer die beste. Die Hymne kann ich immer noch auswendig. Zugegeben, ich schäme mich heute ein wenig dafür. Aber damals, in den 90ern, war das wichtig.

Deutsche Einheit. »Wir sind ein Volk«, alle deutsch. Alle? Wir natürlich nicht. Wir waren Ausländer. So nannte man uns nun einmal damals. Gastarbeiter*innen waren wir nicht, Migrant*innen auch nicht. Manchmal waren wir auch Mohammedaner, aber meistens Ausländer - auf keinen Fall Deutsche.

Der Khan-Report
Ayesha Khan erzählt Geschichten über das Aufwachsen in einem (post)migrantischen Deutschland. Wie das Land sind diese mal lustig, aber öfter auch traurig.

Es ist November 1992. Zwei Jahre nach der Wiedervereinigung. Zwei Jahre sind auch seit dem Tod von Amadeu Antonio Kiowa in Eberswalde vergangen. Neonazis hatten den Vertragsarbeiter aus Angola verprügelt. Im Jahr der Wiedervereinigung gab es mehrere Anschläge auf Schwarze und migrantische Menschen. Auch in Hamburg: In unserer Grundschule gab es am Nachmittag einen »Mittagstisch«, den Herr Ç. leitete. Man blieb, so lange wie es ging, in der Schule. Wir waren Schlüsselkinder - zu Hause wartete niemand auf uns. Und außerdem: Herr Ç. war immer lustig, geduldig und verständnisvoll. Er verstand sich gut mit den Eltern. Doch im November 1992 veränderte sich alles. Familie Arslan in Mölln wird Opfer eines rassistischen Anschlags. Yeliz Arslan, Ayşe Yılmaz sowie ihre Großmutter Bahide Arslan werden bei dem Brandanschlag ermordet. Herr Ç. kennt Familie Arslan und das Haus, in dem sie leben, sehr gut.

Es ist 2019. Wir sitzen im Wohnzimmer von Herrn Ç.s Tochter in Berlin und unterhalten uns über unsere Kindheit. Jetzt hat sie selber ein Kind. Wir fragen uns, wie es hier weitergeht. Erst kürzlich wurde öffentlich, dass die Schauspielerin und Kabarettistin İdil Baydar rassistische Morddrohungen vom »NSU 2.0« per SMS erhält. Unter anderem, weil sie die zentrale Rede der diesjährigen Gedenkveranstaltung »Möllner Rede im Exil« hält. Eine Gedenkveranstaltung, die unter Polizeischutz abgehalten wird. Weil auch 27 Jahre nach dem Anschlag in Mölln migrantisierte Menschen in Deutschland nicht trauern, nicht gedenken können, sondern um ihr Leben fürchten müssen. Als ich mich von Herrn Ç.s Tochter verabschiede, haben wir keine Antwort darauf, wie es weitergeht. Aber die Aussichten sind düster.

Mölln, Solingen, Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda, die Baseballschlägerjahre, NSU, Halle, Hanau. Diese, und so viele mehr, sind die Ereignisse, die ich mit 30 Jahren Deutschland verbinde. Über 200 Todesopfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt seit 1990 zählt die Amadeu-Antonio-Stiftung. Wie viele sind uns nicht bekannt? Wie viele tauchen in keiner Kriminalstatistik auf?

Was hat »Deutschsein« jetzt mit mir zu tun? Ja klar, ich hätte gerne den deutschen Pass. Ich hätte gerne etwas politische Teilhabe. Ich würde gerne problemlos in viele Länder einreisen dürfen. So ein Pass wäre schon was Feines. Nach 30 Jahren sollte wenigstens das drin sein. Auf den Rest verzichte ich gerne. Ich bin nicht deutsch. Ich bin auch nicht von hier. Also wortwörtlich. Was soll überhaupt besonders daran sein, deutsch zu sein? Sind die, die von hier sind, schützenswerter als jene, die nicht von hier sind? Was ist mit den Millionen von Menschen ohne deutschen Pass? Mit unsicherem Aufenthaltsstatus? Die mit Duldung? Sind sie von hier?

Und wie war das eigentlich nach der Wiedervereinigung für die Tausenden Vertragsarbeiter*innen aus Vietnam? Oder den sogenannten »Madgermanes«, den rund 15 000 Vertragsarbeiter*innen aus Mosambik, die Familien in der DDR hatten, aber dann von der Bundesregierung ausgewiesen wurden? Sie waren nicht deutsch genug. Bis heute kämpfen sie für das, was ihnen zusteht.

»Als die Mauer fiel, freuten sich viele, anderen wurde es schwindelig«, schrieb May Ayim, Dichterin und afrodeutsche Aktivistin. Dieser Schwindel, er hält bis heute an.

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