Räsoniert nicht nur - streitet und handelt

Friedenspreisträger Amartya Sen prangert in der Frankfurter Paulskirche Autokratien weltweit an

At the stroke of the midnight hour, when the world sleeps, India will awake to life and freedom.» Als Jawaharlal Nehru mit diesen Worten am 15. August 1947 in New Delhi verhieß, dass mit der Mitternachtsstunde Indien nach jahrzehntelangem britischen Joch zu Leben und Freiheit erwachen werde, war viel Hoffnung. Die sogleich mit Gewaltexzessen zwischen Hindus und Muslimen und mit der Ermordung des Hindus Mahatma Gandhi durch einen nationalistischen Hindu zu bröckeln begann. Über sieben Dezennien danach hat das Land immer noch mit Gewalt, religiösem Wahn, Kastenrassismus, Sexismus und Hunger zu kämpfen, obwohl Indien zu den Weltraumnationen und das Wirtschaftswachstum zu den weltweit beeindruckendsten gehören.

Gewalt erlebte auch Amarty Sen mit elf Jahren: Der muslimische Tagelöhner Kader Mia war auf offener Straße von fundamentalistischen Hindus überfallen worden und stand blutüberströmt vor Sens Elternhaus in Dhaka, heute Hauptstadt von Bangladesch. Sens Vater fuhr den Schwerverletzten ins Hospital, wo man diesem jedoch nicht mehr helfen konnte. Mia war gewarnt worden, sich nicht ins Hindu-Viertel zu begeben, doch er wollte auf den Gelegenheitsjob nicht verzichten, da er eine Familie zu ernähren hatte. Dies geschah drei Jahre vor der Erlangung der Unabhängigkeit des indischen Subkontinents, den die davongejagten («Quit India») Kolonialherren gemäß auch ihrer zwischen Religionen, Elite und Volk praktizierten Politik des «Devide et Impera» in zwei Staaten teilten: Indien und Pakistan. «Meine kindliche Seele war überwältigt von der schockierenden Erkenntnis, dass wirtschaftliche Armut und totale Unfreiheit - das Opfer hatte nicht einmal die Freiheit zu leben - aufs Engste zusammenhängen», erinnert sich Amartya Sen, der am Sonntag in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten hat.

Welch überraschend glückliche Fügung, dass dem Wirtschaftswissenschaftler und Philosophen diese Ehre just in jenem Jahr zuteil wird, da das Ernährungsprogramm der Vereinten Nationen den Friedensnobelpreis erhält. Den Hunger aus der Welt zu schaffen, war und ist Antrieb für Sens Forschen. Den Teufelskreis von ökonomischer, sozialer und politischer Unfreiheit zu durchbrechen, ist stets Fokus seiner Arbeiten. Obwohl Amartya Sen selbst, 1933 in Shantiniketan, Westbengalen, geboren, selbst nie von Not und Entbehrung betroffen war. Er wuchs in einer Akademikerfamilie auf, studierte und lehrte an Universitäten wie Cambridge, Berkeley, Harvard und Oxford. In seinen Worten: «Ich wurde auf einem Universitätscampus geboren und scheine mein ganzes Leben lang auf irgendeinem Campus gelebt zu haben.»

Und doch haben ihn die «Elenden», die am Rande oder gar unterhalb des Existenzminimus lebenden Menschen, stets berührt. In einer Studie über die Hungersnot in Bengalen 1943 belegte Sen, dass nicht Lebensmittelknappheit schuld am Tod von bis zu drei Millionen Menschen war, sondern Preistreiberei und massive Aufkäufe der Kolonialmacht. «Hunger ist menschengemacht», ist Amartya Sen überzeugt. Auf seine Initiative ist 1990 der Human Development Index von der UNO eingeführt worden, bekannt auch als Sen-Index. Der Wohlstandsindikator misst Lebensqualität nicht mehr nur am wirtschaftlichen Wachstum der Staaten, sondern auch an Bildungsstandards und Lebenserwartung. Dafür bekam er 1998 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. Inzwischen haben seine Bücher, etwa «Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt» und «Die Idee der Gerechtigkeit», auch in Deutschland Bestsellerlisten erobert.

Zu Beginn seines neuen Buches, «Die Welt teilen», zitiert der indische Vor- und Nachdenker Heinrich Heine: «Es ist eine alte Geschichte/ Doch bleibt sie immer neu.» Um sodann fortzufahren: «Heines Frustration im frühen 19. Jahrhundert kommt einem unweigerlich in den Sinn, wenn man die alten Probleme und ihre fortgesetzte Unmenschlichkeit in den neuen, erweiterten Dimensionen der heutigen Welt betrachtet.» In seiner Dankesrede, per Video aus Boston übertragen, erinnert der Friedenspreisträger an Immanuel Kant und dessen Schrift «Was ist Aufklärung?», in der es heißt: «Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen.» Sen lässt es sich nicht nehmen, den Königsberger Philosophen ausführlich zu zitieren, um auf Widerstände damals wie heute aufmerksam zu machen: «Nun höre ich aber von allen Seiten rufen: Räsoniert nicht! Der Offizier sagt: Räsoniert nicht, sondern exerziert! Der Finanzrat: Räsoniert nicht, sondern bezahlt! Der Geistliche: Räsoniert nicht, sondern glaubt! Ich antworte: Der öffentliche Gebrauch seiner Vernunft muss jederzeit frei sein, und der allein kann Aufklärung unter Menschen zustande bringen.»

Räsonnieren genügt nach Sen nicht, er plädiert dafür, zu streiten. Freilich nur mit dem Wort. Und zu handeln. Freilich, dazu bedarf es Wissen. Und Meinungsfreiheit. Der 86-Jährige, den Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Laudatio - verlesen von Schauspieler Burghart Klaußner - eine «moralische Instanz» nannte, beklagt repressive Tendenzen in vielen Staaten Asiens, Europas, Lateinamerikas wie auch in seiner Heimat Indien und der Wahlheimat USA. Er kritisiert, dass die gegenwärtige hinduistisch-nationalistische Regierung abweichende Meinungen als «Aufwiegelung» ansehe, «missliebige Menschen zu Terroristen erklärt und ohne Gerichtsverfahren ins Gefängnis» werfe, wie einst die britische Kolonialherrschaft. Unverkennbar seine Sympathie mit der protestierenden, säkularen, sich auf die von Gandhi gelehrte und gelebte Gewaltlosigkeit (Ahimsa) berufende Studentenbewegung. Er ist entsetzt, dass im heutigen Indien Muslime wieder systematisch unterdrückt und bedroht werden, die Vergewaltigung von Frauen und Ermordung von Dalits aus der Kaste sogenannter «Unberührbarer» (Paria) trotz Antidiskriminierungsgesetzen Alltag sind. Ebenso prangerte Amartya Sen die «zementierte Ungleichheit» von Afroamerikanern in den USA und homophoben Regierungen in Osteuropa an. Sein Fazit und Appell: «Autokratien sind eine weltweite Pandemie. Es ist kaum Dringlicheres geboten als globaler Widerstand gegen Autoritarismus.»

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