Niedersachsen will Pflegekräfte länger arbeiten lassen

Im ersten Bundesland soll die maximale Arbeitszeit von zehn auf zwölf Stunden pro Tag erhöht werden

  • Martin Brandt
  • Lesedauer: 3 Min.

Niedersachsen prescht voran. Nachdem im Sommer die Covid19-Arbeitszeitverordnung des Bundes und 13 andere Länderverordnungen ausgelaufen sind, hat das niedersächsische Sozialministerium als erstes Landesministerium wieder eine Allgemeinverfügung zum Arbeitszeitgesetz erlassen. Bis zum 31. Mai 2021 erlaubt die neue Verordnung eine notfallbedingte Erhöhung der Arbeitszeit für die Beschäftigten in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen und im Rettungsdienst. Statt der bisherigen Maximalarbeitszeit von zehn Stunden pro Tag beziehungsweise 48 Stunden pro Woche sollen sie nunmehr wieder bis zu zwölf Stunden pro Tag beziehungsweise 60 Stunden pro Woche arbeiten dürfen. Die Lockerung betrifft auch das bisherige Verbot von Sonntags- und Feiertagsarbeit. Hinweise zu besonderen Entschädigungszahlungen oder Ausgleichsstunden sucht man vergeblich.

Zuerst verurteilte die Pflegekammer Niedersachsen die Verordnung scharf. »Monatelang hat das Land verschlafen, die medizinischen Einrichtungen auf die zweite Welle der Corona-Pandemie vorzubereiten. Jetzt sollen wieder die Beschäftigten in den systemrelevanten Berufen unter Einsatz ihrer eigenen Gesundheit die Situation retten«, kritisierte Nadya Klarmann, Präsidentin der Pflegekammer Niedersachsen. Die Pflegekammer steht seit ihrer Gründung selber in der Kritik und soll im kommenden Jahr vom Landtag abgewickelt werden.

Die Pflegegewerkschaft Bochumer Bund (BB) forderte die Rücknahme der Verordnung und rief die Personal- und Betriebsräte auf, der Ausweitung nicht zuzustimmen. »Wir befinden uns seit Jahren im Pflegenotstand, und es fällt der Politik nichts Besseres ein, als noch mehr Kolleginnen und Kollegen aus dem Beruf zu treiben«, sagte der Vorstandsvorsitzende des Bochumer Bunds, Benjamin Jäger. Viele derjenigen, die sich für eine Karriere in der Pflege interessierten, »dürften sich bei den einmal mehr verschärften katastrophalen Rahmenbedingungen beruflich anders orientieren«, warnte Jäger vor einem steigenden Fachkräftemangel in den Pflegeberufen wegen der schlechten Arbeitsbedingungen.

Die Verdi-Gewerkschaftssekretärin Aysun Tutkunkardes sieht das größte Problem in der Altenpflege. »Für die dortigen Arbeitgeber öffnet die Verordnung Tür und Tor, da es in den kleinen und privaten Betrieben keine Kontrollmechanismen durch Betriebsräte gibt«, sagte sie im Gespräch mit dieser Zeitung. Die Opferbereitschaft der Beschäftigten werde hier bewusst ausgenutzt. »Eine effektivere Entlastungsmöglichkeit sehe ich stattdessen im Umbau von Reha-Kliniken zu Behelfskliniken und in einer vernünftigen Teststrategie für die Altenpflege«.

Dass das Personal schon im Frühjahr fehlte, daran erinnerte der Deutsche Verband für Pflegeberufe (DbfK). So wurde auf dem Messegelände in Hannover eine Notklinik errichtet: »Wer im Zweifel die bis zu 500 Intensivpatienten dort betreuen sollte, darüber konnte das Land bis dato keine Auskunft geben«. Auch den Marburger Bund Niedersachsen treibt die Personalfrage um. »Die Landesregierung mahnt zurecht flexible Lösungen an. Aber der Ansatzpunkt ist völlig falsch«, sagte der Zweite Vorsitzende Nadreas Hammerschmidt. Im Ernstfall solle Personal aus patientenferneren Bereichen wie dem MDK oder dem Controlling hinzugezogen werden.

Wie die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) am vergangenen Freitag warnte, rückt der Ernstfall immer näher. Während die Corona-Infektionen bundesweit am selben Tag erstmalig die Marke von 20 000 Neuinfektionen pro Tag überschritt, erwartet die DIVI den Höhepunkt dieser Entwicklung auf den Intensivstationen erst mit einer zeitlichen Verschiebung von vier bis sechs Wochen. »Die Krankenhäuser mit einem hohen Aufkommen an Covid-19-Patienten müssen jetzt, umgehend aus dem Regelbetrieb herausgenommen und auf Notbetrieb umgestellt werden!«, forderte DIVI-Präsident Uwe Janssens. In Berlin werden daher bereits die ersten nicht lebensnotwendigen Operationen verschoben.

Wie das Bundesministerium für Arbeit und Soziales auf Anfrage mitteilte, sieht es derzeit keine Notwendigkeit für eine erneute Zulassung bundesweiter Ausnahmeregelungen. Ob und wie stark Arbeitgeber von der ersten Verordnung im Frühjahr Gebrauch gemacht haben, darüber liegen dem BMAS keine Daten vor.

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