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Peru driftet in die Führungslosigkeit

Übergangspräsident Merino kann sich nach Protesten mit tödlicher Polizeirepression nicht mehr halten

  • Steffen Heinzelmann, Cochabamba
  • Lesedauer: 4 Min.

Der Sonntagmorgen in Lima war nach einer schlaflosen Nacht für viele ein Morgen voller Schmerzen, Trauer und Wut. In der Nacht zuvor hatte die Polizei in der peruanischen Hauptstadt bei Protesten gegen Übergangspräsident Manuel Merino zwei Studenten getötet, mehr als 100 Demonstrant*innen verletzt. Am Sonntagmittag musste Merino dann nach nur fünf Tagen im Amt zurücktreten. Was bleibt, ist ein Schock über Polizeigewalt, wie ihn die Menschen in Lima seit zwei Jahrzehnten nicht mehr erlebt hatten.

Am Samstag waren Peruaner*innen den sechsten Tag in Folge im ganzen Land auf der Straße, um gegen die Absetzung des bisherigen Präsidenten Martín Vizcarra und die Machtübernahme durch Merino zu protestieren. Mit Nationalflaggen, Schildern und Musik zogen Zehntausende Menschen durch Lima, Arequipa, Cuzco und andere Städte, um lauthals klarzumachen: Merino ist nicht unser Präsident.

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Am Samstagabend eskalierte die Nationale Polizei Perus (PNP) die Lage: Polizist*innen mit Helmen und Körperschutz konzentrierten sich im politischen Zentrum Limas, sie sperrten Straßen mit Gittern und verbarrikadierten sich hinter Schilden, sogar die Straßenbeleuchtung auf der Plaza San Martín, dem Ort der Großkundgebung, wurde gelöscht. Videos zeigen, wie die PNP immer wieder Salven von Tränengaskartuschen und Gummischrot auf demonstrierende Menschen schießt, auf Sanitäter*innen, ältere Menschen, Eltern mit Kindern. Sogar von Helikoptern aus wurden Protestierende mit Tränengas beschossen.

Bei diesen brutalen Attacken, die bis zum Morgengrauen andauerten, tötete die Polizei nach bisherigen Erkenntnissen die beiden Studenten Inti Soleto und Bryan Pintado, 24 Jahre und 22 Jahre alt. Bei der Obduktion von Bryan Pintado wurden nicht weniger als zehn Metallkugeln im Schädel, Gesicht, Hals, Arm und Oberkörper gefunden.

Schuldige an dem Gewaltexzess in Uniform benannte die Nationale Koordination für Menschenrechte (CNDDHH), eine Organisation aus 82 Menschenrechtsorganisationen, noch in derselben Nacht: De-facto-Präsident Manuel Merino, der die gesamte Schreckensnacht unsichtbar und sprachlos blieb. Ministerpräsident Ántero Flores-Aráoz, ein Rechtsextremist, der 2009 als Verteidigungsminister verantwortlich für das Massaker in der Stadt Bagua mit 33 Toten war. Und das zuständige Kommando der Nationalen Polizei.

Die Absetzung des vorherigen Präsidenten Martín Vizcarra wegen »dauerhafter moralischer Unfähigkeit« am Montag zuvor mit Stimmen von 105 der 130 Abgeordneten im Kongress hatte viele überrascht, denn ein erstes Amtsenthebungsverfahren im September war noch gescheitert. Vizcarra hatte im März 2018 das Amt von Pedro Pablo Kuczynski übernommen, als dieser wegen Korruptionsvorwürfen zurücktrat. Auch Vizcarra wird vorgeworfen, vor sechs Jahren Bestechungsgelder angenommen zu haben. Der Präsident ist bei den Peruaner*innen allerdings äußerst beliebt, und für den April sind in Peru sowieso Wahlen geplant, bei denen Vizcarra ohnehin nicht hätte antreten dürfen. Zudem wird die verfassungsrechtlich fragwürdige Begründung der »dauerhaften moralischen Unfähigkeit« derzeit vom Verfassungsgericht Perus geprüft.

So nutzte eine Gruppe ultrareligiöser rechter Politiker die Gelegenheit zur Machtübernahme, um wirtschaftliche Interessen zu wahren, sich Immunität in Strafprozessen zu sichern und politischen Einfluss zu festigen - weshalb in Peru viele einen »parlamentarischen Staatsstreich« beklagen.

Überrascht reagierten viele Hauptstadtbewohner auch auf die schonungslose Repression durch die Polizei, von Demonstrationen für die Rechte indigener Gemeinschaften und gegen die Umweltzerstörung durch Bergbauprojekte ist diese Vorgehensweise leider gut bekannt: 2009 wurden in Bagua im nördlichen Amazonas bei Protesten gegen ein Gesetzespaket, das die Rechte der indigenen Gemeinschaften verletzte und das Amazonasgebiet bedrohte, 33 Menschen getötet. Bei einem Streik 2015 gegen das Kupferbergwerk Las Bambas im Süden Perus starben vier Menschen.

Am Sonntagabend kamen viele Menschen ins Zentrum Limas, um am Schauplatz der Kämpfe Blumen abzulegen und Kerzen anzuzünden für die Getöteten und für die Verletzten. Und um die Aufklärung der Gewalttaten zu fordern. Junge Demonstrant*innen betonten, dass sie sich einer abgehobenen, korrupten Politikerkaste widersetzen, die nur an eigene Vorteile denkt, statt sich um Wünsche jungen Peruaner*innen wie dem nach einer guten, bezahlbaren Bildung zu kümmern. Einen Namen gibt es schon für die jungen Aktivist*innen: »Generation Bicentenario«, Generation 200 Jahre, weil Peru im kommenden Jahr das 200. Jahr der Unabhängigkeit begeht. Und wenn es planmäßig läuft, finden dann im April die Präsidentschaftswahlen statt, mit der Weichen gestellt werden. Die Richtung ist nicht absehbar. Und fürs Erste sucht Peru nach einem Übergangspräsidenten: Die nächste Abstimmung in Lima über eine*n neue*n Präsident*in war am Montag um 18 Uhr MEZ - nach Redaktionsschluss - geplant.

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