• Reise
  • Corona und soziale Folgen

Zeit zu gehen

Lob dem Spaziergang - jetzt, da uns, wie immer, Grenzen gesetzt sind

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Man müsste eine Reisepflicht einführen: mindestens einmal im Jahr dorthin fahren, wo man nicht hingehört. Politiker zum Beispiel ins Volk, die weiteste Reise. Nur hinaus! Bis man den, der man zu Hause ist, nicht mehr ohne Weiteres versteht. In Corona-Zeiten schwierig. Aber bekanntlich beginnt die Welt vor der eigenen Haustür. Für den, der sich gehen lässt, wenn er geht, ist schon der Spaziergang - eine Weltreise. In Zeiten von Abstand und Risikogebieten also: ein Lob dem spontanen Flanieren gleich um die Ecke!

Nein, zu weit wollen wir nicht gehen. Gehen schon. Der Spaziergang ist Höhenflug. Er lotst den Menschen sanft aus der Prosa der realen Verhältnisse - und plötzlich siehst du herab. Auf dich. Auf diese Furcht vor der Tatsache, dass du dein Leben möglicherweise an einem Platz verbringst, der nicht der deine ist. Nicht mal Wolken, die vom heftigsten Sturm gejagt werden, sehen je so gehetzt aus wie wir am superflachen Boden. Also: Geh langsam, tritt aus dem Wimmelbild, hör den Laubblättern unter deinen Füßen zu, sie sagen die Wahrheit.

Der Spaziergänger schaut in die Welt, und zugleich ist er die Welt. Weil er keinen Auftrag hat, kommt er der Welt so nahe. Die hat ja auch keinen Auftrag. Schönste Kapitulation des Tages: Alles möge sich - ergeben, so, wie es kommt. Das ist Ankunft in wahrer Fort-Bewegung: in den Teufelskreisen flanieren, nicht zu fliehen versuchen. So muss es vor Zeiten den Romantikern ins Gemüt gefahren sein. Und es ist doch anzunehmen, dass der Mensch, wenn er wach und willig auf die Straße tritt, nicht nur immer verunglücken, sondern auch verglücken kann. Und gibt es wirklich nur vier Himmelsrichtungen?

Nichts Bestimmtes sein. Sich schlendernd wehren gegen Verfestigung, Verbarrikadierung, Persönlichkeitsaufrüstung, Selbstdefinition, Identitätssucht. Denn was ist denn Leben? Eine Laune des Absoluten, das sich mit der unendlichen Komödie unserer Charaktere ein bisschen die Ewigkeit vertreibt. Der Penetranz eines Sinnstrebens, in dem das Ich ja immer auch beschädigt wird, setze ich lieber den Menschen entgegen, der noch der Ungemütlichkeit einen Reiz abgewinnen möchte. Inmitten unserer prinzipiellen »Bruchbudenhaftigkeit« (Wilhelm Genazino), die von keiner politischen Bewegung geheilt wird.

Heutzutage muss alles Ertrag bringen. Da freilich kann das Spazierengehen, auf ganz andere Art, mithalten. Seine Ernte: Staunen. Ein Staunen, das James Joyce »die schockhafte Erleuchtung im Alltag« nannte. Ein Staunen, das aus dem Erleben der Gleichzeitigkeiten erwächst: von Verstehen und Nichtverstehen, von Erlebnis und Langeweile - von Erlebnis inmitten der Langeweile. Sich so klein machen, dass das Große und Ganze keine Angriffsflächen hat. Auch dies: eine Art der Emanzipation. Empfindungslese wie Weinlese. Regen tropft wie Licht. Nebel zieht den Himmel aufs Niveau unseres melancholischen Gemüts herab, und so darf auch er sich gehoben fühlen wie wir.

Man begegnet beim Flanieren wieder dem Enthusiasmus einer Anschauung, die von keinem Verwertungsinteresse klein gemacht wird. Belausche nahe Stadt- wie Landschaften, als seien es Menschen - auch Parks sind launisch, Häuserreihen müde, Nebenstraßen grummeln. Und schau auf Menschen, als seien es Landschaften - dies Abgelagerte, dies Tiefliegende, dies Zerklüftete, dies Aufgeworfene und Abgetragene. Alles draußen ist eine sonderbare Einheit, die Vergangenheit ist ja auch die Gegenwart, und wer kann schon mit Sicherheit sagen, was Märchen ist, was Wirklichkeit.

Im einsamen Spaziergang wehrt sich das Individuum gegen die Übergriffe einer totalen Zerstreuung, die hirngleiche Massen produziert. Nun ja, sagt man schnell, ein Abenteuer sei das freilich nicht. Der Begriff ist doch verschlissen! Mit dem Flugzeug überqueren wir nicht nur schlechthin Kontinente, wir überqueren teilnahmslos und in Windeseile, was uns auf ebener Erde als Sorge peinigt: Klimazonen, Kriegsfelder, Katastrophengebiete, Hungersavannen. Der fliegende Passagier weit droben sorgt sich höchstens ums Service-Niveau und bangt um den Anschlussflug. Die Verzwergung der Reise zum Transport - sie hat sämtliche Ufer und Fernen einander näher gebracht. Wozu überhaupt noch weit und hoch hinaus? Und wenn, dann Ansturm: Für den Weg zum Gipfel des Mount Everest gibt es inzwischen Wartelisten: Fließband der Extremisten, die das Abenteuer auf ihre Weise entwerten.

Der Spaziergängers behauptet, er habe nichts vor. Spazierengehen bedeutet hemmungslos Zeit vergeuden, und dies aus dem einzigen Grund: sie auf solche Weise zurückzuerhalten. Wir sprachen von Langeweile. Das ist zurückeroberte Zeit. Ja, es leben die Spaziergänge! Wir gehen nicht weg. Aber wir kommen immer irgendwo an. Flanierend sind wir Spezialisten des kleinen Zwischenfalls unterwegs, der nichts verändert, aber alles in Frage stellt - zum Beispiel die Anmaßung, Welt sei zu gestalten ohne Demut vor dieser Welt. Wenn sie die Straße betreten, geht der Blick der Spaziergänger schon fremd. Sie können nur ehrlich sein, indem sie treulos sind zu allem, was Festpunkt und Standpunkt sein will. Man muss das Dasein nur im richtigen Winkel von der Seite anschauen, und schon ist dies das Ende der realen Bedrohungen.

Ja, die Lage ist überall angespannt, uns werden unliebsame Grenzen gesetzt, manche Zusammenhänge sind dunkel, doch immer gibt es, wenn du es nur sehen willst, ein Stückchen Erde, auf das ein schönes Licht fällt, und sonnengelb glänzt auch im Herbst der Schaft eines gräsernen Halmes. Das genügt: So sehen Wunder aus. Wenn wir denn in der Lage sind, nicht nur einfach zu sehen, sondern: zu schauen. Engere Heimat heißt: Es ist etwas schön. Das muss man sagen. Weil es verschwindet. Bevor es irgendwann wiederkommt.

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