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Und hätten wir der Liebe nicht

Kunst, die sich an große Fragen traut: Am Deutschen Theater Berlin verwandelt Sebastian Hartmann »Der Zauberberg« in einen rauschhaften Bühnenessay - die Premiere wurde einmalig im Netz gezeigt

  • Jakob Hayner
  • Lesedauer: 6 Min.

In einem Gedicht von Bertolt Brecht heißt es: »Wenn die Irrtümer verbraucht sind / Sitzt als letzter Gesellschafter / Uns das Nichts gegenüber.« Das ließe sich einerseits verstehen als Kritik menschlichen Erkenntnisbemühens, andererseits aber auch als ungeschönte Darstellung des Einzelnen in seiner Endlichkeit. Nicht, dass das so fein säuberlich zu trennen wäre. Wenn alle Menschen nach Wissen streben, wie Aristoteles behauptete, dann vielleicht gerade aus der tiefen Erfahrung eigenen Mangels. »Ich muss sterben! Ich muss sterben! Ich muss sterben!«, diese im Schmerz herausgebrüllte Einsicht muss eben keine Einwilligung in die Sinnlosigkeit der Existenz sein, trennt also nicht vom Leben, sondern führt erst zu ihm hin - wie umgekehrt imaginierte Unsterblichkeit sich gänzlich gleichgültig zeigt, weil die Unbegrenztheit der Zeit alle Unterschiede einzieht und keine Intensitäten kennt. Sein, Zeit, Krankheit, Tod und Liebe, die Befürchtung, bei dieser Themenwahl heideggert es allzu schlimm, liegt nicht fern und ist doch völlig abwegig. Diese Konstellation hat der Theaterregisseur Sebastian Hartmann aus Thomas Manns »Der Zauberberg« gewissermaßen als Skelett freigelegt, eine ausgesprochen freie Adaption des Romans für die Bühne, die aber genau darin ihren Reiz hat.

Hartmann, der sich in den vergangenen Jahren im Theater als kluger Stückezertrümmerer und Romanezerleger einen Namen gemacht hat, schließt mit »Der Zauberberg« an seine »Lear«-Arbeit an, ebenfalls am Deutschen Theater in Berlin aufgeführt. Von Shakespeares Stück war kaum etwas unverändert übernommen worden: Der Dialog war angebrochen, nur das zeitgemäß Monologische füllte spärlich noch die Bühne, die einer weißen Zelle glich. Alter, Tod, Sterben, der Zusammenbruch des Symbolischen, also der Sprache, das Kippen in den Wahnsinn und das Gesetz des Vaters, das waren trotzdem die erkennbaren Fundamente des »Lear«-Themas, gleichsam als Ruinen vergangener Zeiten, die zu entschlüsseln sind. Die Anordnung beim »Zauberberg« ist ähnlich. Hartmann, der neben der Regie auch für die Bühne verantwortlich zeichnet, lässt diese wieder in blendend-heller Leere erstrahlen. Auf dem Boden das Labyrinth der Kathedrale von Chartres, das symbolisch für das Vaterunser steht, die Blätter sollen Glaube, Hingabe, Dienen, Fülle, Vergebung, die Überwindung der Sünde und des Bösen versinnbildlichen, in der Mitte aber die Rose für die Liebe, das Zentrum wie auch bei Glaube, Liebe und Hoffnung. Von der antiken Philosophie übers Christentum bis zur modernen Psychoanalyse wird immer wieder gefragt, was das sei - die Liebe.

So auch bei Thomas Mann im »Zauberberg«. Hans Castorp, der Protagonist, landet in einem der Quacksalberei nicht unverdächtigen Lungensanatorium in Davos, in dem die meiste Zeit mit exzessivem Fiebermessen, ausgedehnter Liegekur und ritualisierten Mahlzeiten verbracht wird. Er verknallt sich in die geheimnisvolle Madame Chauchat, entdeckt mit der Ankunft eines Grammophons seine Begabung als DJ, erfährt einiges über die Seelenzergliederung (schönes deutsches Wort für Psychoanalyse), hat bei einer Skiabfahrt einen nahezu psychedelischen Schneetraum, nimmt an Trinkgelagen eines alten Lebemanns teil und diskutiert nebenher mit Settembrini und Naphta über die Untiefen der Geistesgeschichte - und das alles sehr vergnüglich erzählt auf knapp 1000 Seiten. Als sich Hans Castorp und Madame Chauchat auf Seite 823 dann endlich küssen, sinniert der Erzähler über den schwankenden Sinn der Liebe vom Fleischlichen bis zum Geistigen; die »Sympathie mit dem Organischen, das rührend wollüstige Umfangen des zur Verwesung Bestimmten«. Liebe ist also gebunden ans Leibliche und übersteigt es zugleich, sie ist das Rätsel der menschlichen Selbstüberschreitung der Natur. Dem Ausruf »Ich muss sterben!« gesellt sich im theatralen Schreikonzert das »Ich liebe dich!« hinzu.

Bei Hartmann geht es zugegeben einiges zügiger als in der Vorlage, der Abend beschränkt sich auf zwei Stunden. Zu Beginn der Auftritt der Körper in den Kostümen von Adriana Braga Peretzki, grotesk fette oder magere Leiber, wie unheimliche Michelinmännchen stapfen sie, auch die Gesichter weiß geschminkt, über die Bühne. Bis zuletzt fällt es nicht leicht, alle Schauspieler immer zweifelsfrei zu identifizieren; es spielten Elias Arens, Manuel Harder, Markwart Müller-Elmau, Linda Pöppel, Birgit Unterweger, Cordelia Wege und Niklas Wetzel, Peter René Lüdicke konnte nicht auftreten. Die Tonspur lässt Wind pfeifen, man hört Schritte im Schnee. Später gibt es auch Kriegsgeräusche im Hintergrund, die sich wohl nur erklären, wenn man das fulminante Ende des Romans kennt. Die Stimmen der mit Mikroports ausgestatteten Schauspieler werden teils verzerrt oder mit Hall versehen. Die Musik von Samuel Wiese gibt der Szenerie eine teils düstere, teils aufpeitschende Atmosphäre. So stapfen sie immer weiter. »Die Gesellschaft hat sich selbst abgeschafft, aber wir machen weiter«, heißt es in einem Monolog. So sind sie wie traurige Geister in einem leeren Theater, denn gespielt wird ohne Publikum, nur vor den die Schauspieler umkreisenden oder von oben filmenden Kameras, die die Premiere am Freitag einmalig und live ins Internet übertragen haben (was bis auf seltene und kurze Bild- und Tonausfälle technisch gut funktioniert hat). Das hat bei allen Einwänden gegen das Digitaltheater auch ästhetisch zu überzeugen gewusst, beispielsweise durch geschickte Überblendung und Gruseleffekte.

»Kann man die Zeit erzählen? Was ist das Leben? Was heißt Menschlichkeit? Worin besteht Welt?« Diese Fragen geleiten durch den Abend, den man durchaus als eine Antwort auf die pandemisch-politische Infragestellung des Sozialen begreifen kann. Und das ist auch die große Stärke: Hartmann spiegelt nicht nur, was ist, er versucht mit den Mitteln der Kunst eine Antwort zu geben. Der kapitalistischen Beherrschung und Verwaltung des Lebendigen ist die dialektische Ausnahme fremd, die Steigerung und Intensivierung des Lebens wird durch die bloß instrumentelle Verlängerung ersetzt, eine schäbige Quasireligion angesichts der realen Erniedrigung und Zerstörung durch die Verwandlung der Welt in eine ungeheure Sammlung von Waren. Leben, so noch mal Mann bei Hartmann, ist Wärme, »ein Fieber der Materie« sowie »das Sein des eigentlich Nicht-sein-Könnenden«. Eine Erregung, eine gefährliche Balance also, die sich dem Zerfall nähert, wie alle Eiweißproteine, die von Menschen wie von Viren, bei knapp über 40 Grad gerinnen.

Hartmanns rauschhafter multimedialer Bühnenessay nach der Romanvorlage ist ernsthaft und konsequent in seinem Ansinnen. Dadurch nähert er sich zugleich der Frage: Warum eigentlich Kunst in Zeiten ihrer Abschaffung? Weil das, was sie zeigt, einer anderen Logik folgt, könnte man eine Antwort wagen. Weil sie statt der totalen technischen Beherrschbarkeit des Lebens eine andere soziale Utopie formulieren kann, die auch den Tod nicht scheuen muss, weil das Leben Erfüllung hätte. Weil sie Intensität schafft, aber friedlich, nicht in der Gewalt der Krieges beispielsweise oder im kaum selbst noch geglaubten Wahn des Religiösen. Sicher, am Ende kommt das Nichts. Es kommt aber auch auf die Irrtümer zuvor an, die mit dem verknüpft sind, was Liebe oder Eros heißt. Man solle schlechtes Leben mehr fürchten als den Tod, heißt es später bei Brecht. Kunst ist die Übung darin. Die erste Vorstellung vor Publikum, die wohl etwas anders ausfallen dürfte als die im Netz, ist für den 13. Dezember geplant. Ob das so stattfinden wird, ist der Kunst wie den Künstlern im Moment entzogen. Der Wunsch jedenfalls ist deutlich zu vernehmen - und inzwischen auch der Protest.

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