Homo sapiens wossi

Die große Chance: Dr. Harald Hildebrand wechselte ins Bundeslandwirtschaftsministerium

  • Lesedauer: 5 Min.

Die Ereignisse und Entwicklungen vor und nach dem 3. Oktober 1990 hatten bei mir über Wochen und Monate Ungewissheit, Zweifel und Zukunftsängste ausgelöst. In diesem Wechselbad der Gefühle kam auch bei mir die bange Frage auf, wie es mit dem Land und einem selbst weitergehen würde. Mich und gewiss viele andere erfasste zunächst weniger die Euphorie um die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands, vielmehr Zweifel an der Zukunft.

Ich war von 1987 bis 1990 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Ministeriums für Land-, Forst- und Nahrungsgüterwirtschaft der DDR und befasste mich mit Fragen der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit, insbesondere mit internationalen Organisationen wie der UN-Sonderorganisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO) und einigen Entwicklungsländern. Die BRD galt bis 1989 als kapitalistisches Ausland, und die seit dem Grundlagenvertrag 1973 wachsende Zusammenarbeit zwischen DDR und BRD auf landwirtschaftlichem Gebiet stand unter dem Vorbehalt, dem vermeintlichen Partner ja nicht zu viel Einblick zu gestatten. Geheimnisschutz hatte Vorrang.

Ab Januar 1990 änderte sich das in frappierender Weise. Wie viele andere Mitarbeiter durfte auch ich erstmals die »Grüne Woche« in Westberlin besuchen. In Verbindung mit der Messe fand eine Informationsveranstaltung statt, bei der Vertreter der Europäischen Gemeinschaft (EG) aus Brüssel über den Zustand und die Potenziale der Land- und Ernährungswirtschaft der DDR ins Licht gesetzt wurden. Wie auch in anderen Wirtschaftsbereichen kam es ab Frühjahr 1990 zu ersten Kontakten und dann auch Gesprächen zwischen den beiden deutschen Ressortministerien. Im April reiste ich mit einem Minister-Stellvertreter zur Europäischen Regionalkonferenz der FAO in Venedig und zur Tagung des Welternährungsrates in Bangkok. Hatten wir DDR-Vertreter uns früher bei ähnlichen internationalen Treffen strikt von der Abordnung der Bundesrepublik abgegrenzt, so saßen wir nun eher traulich nebeneinander im Tagungssaal. Mir selbst fiel dann im Frühsommer 1990 die Aufgabe zu, das neu geschaffene Referat »Allgemeine und grundsätzliche EG-Fragen« im Ministerium für Ernährung, Land- und Forstwirtschaft, so der neue Name, zu leiten.

Meine neue Aufgabe in dem mir zunächst völlig unbekannten Sachgebiet EG-Agrarpolitik war es, mit der »Interministeriellen Arbeitsgruppe EG« an einem Memorandum der DDR-Regierung zu basteln, das der Europäischen Kommission in Brüssel auf zehn Seiten die »Situation der Agrar- und Ernährungswirtschaft der DDR und die Erfordernisse ihrer Eingliederung in die Europäische Gemeinschaft« darstellen sollte.

Mit diesem vermeintlich gewichtigen Papier im Aktenkoffer und einem klammen Gefühl im Bauch startete ich im August 1990 zu meiner ersten »Westreise« ins andere Deutschland. Im Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten in Bonn wurde ich freundlich aufgenommen. Trotzdem endete diese meine Mission mit dem für die DDR-Seite ernüchternden Bescheid: Die (noch bestehende) DDR-Regierung könne kein Memorandum an die EG-Kommission richten, denn die Frage des EG-Beitritts könne nicht zwischen ihr und der EG-Kommission verhandelt werden, dafür sei die Bundesregierung zuständig. Überdies wurde mir vom zuständigen, im Übrigen kompetenten und kooperativen Bonner Beamten beschieden, man habe die Situation der ostdeutschen Agrar- und Ernährungswirtschaft dramatisiert. An diesem Verdikt änderte auch die Reise eines leitenden Vertreters des DDR-Ministeriums nach Brüssel nichts, den ich damals begleitete.

Zu diesem Zeitpunkt - die Wirtschafts- und Währungsunion von BRD und DDR war schon Realität - ging es im Sauseschritt auf die deutsche Einheit zu. Wie viele andere im Ministerium sollte ich auch Gelegenheit haben, mich für eine Tätigkeit in Bonner Diensten zu bewerben. Eine Kommission kam aus Bonn nach Berlin-Karlshorst und sollte nun im direkten Gespräch nach Prüfung der eingereichten Unterlagen eine Entscheidung darüber treffen, wer zunächst befristet in den Bundesdienst übernommen wird.

Meine Chancen standen nicht schlecht: Diplom-Dolmetscher und -Übersetzer für Englisch und Spanisch, gute Beherrschung des Portugiesischen sowie Kenntnisse der russischen und französischen Sprache, Teilstudium auf dem Gebiet der tropischen Landwirtschaft und schließlich Promotion. Dies alles Qualifikationen, die ich in der DDR erlangen konnte. Und Auslandserfahrung hatte ich als »DDR-Reisekader« bei zahlreichen Einsätzen als Dolmetscher gesammelt. Viele andere meiner Kollegen mussten sich nach Ende der sogenannten Warteschleife, das heißt keine Weiterbeschäftigung, mit allen möglichen Tätigkeiten begnügen, selbstständig oder in Hilfsjobs, vom Imbissbetreiber bis zum Lohnsteuerhelfer.

Inzwischen war am 3. Oktober die staatliche Einheit vollzogen. Unvergessen, wie sich am Tag danach Bundeslandwirtschaftsminister Ignaz Kiechle bei einer Zusammenkunft in Karlshorst an die noch verbliebenen Bediensteten des ehemaligen DDR-Ministeriums wandte. Er zeigte für deren neue und keineswegs sichere Situation Verständnis - und dabei ging ihm jegliche Arroganz des vermeintlichen »Siegers der Geschichte« ab. Er suchte Mut zu machen und sprach von historischem Zufall und Glücksumständen, ob man nach Krieg und Teilung nun östlich oder westlich der Zonen- bzw. Staatsgrenze lebte und sich zwangsläufig unter den jeweiligen politischen Umständen einzurichten hatte. Was aber insgesamt den Ostdeutschen auf dem Weg in ein »gemeinsames Vaterland« bevorstehen würde, konnte auch er nicht ahnen.

Ich erhielt ab 1990 die große Chance, entsprechend meiner Qualifikation tätig zu sein - Arbeitslosigkeit und Stellensuche blieben mir erspart. Ich war in gewissem Sinne ein »Gewinner« der deutschen Einheit, kein Gewinnler. Auf dieser meiner positiven Bilanz der deutschen Einheit lastet aber auch der Gedanke, dass vielen qualifizierten Mitstreitern aus der DDR-Zeit dies aus den verschiedensten Gründen nicht vergönnt war. So ging mit dem Scheitern des realen Sozialismus und der Erlangung der deutschen Einheit bei allem damit verbundenen Gewinn an Freiheitsrechten und Lebensqualität nicht nur millionenfach so manche Chance auf ein selbstbestimmtes Leben verloren, sondern auch manches Bewahrenswerte aus fast 40 Jahren DDR.

Die deutsche Einheit mit ihren Erfolgen, Widersprüchen und sozialen Verwerfungen prägt noch immer den politischen Diskurs dieses Landes. Und so lässt mich das 30. Einheitsjahr zurück als nachdenklichen, zuweilen ratlosen und zweifelnden 81-jährigen Vertreter der Unterart Homo sapiens wossi.

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