»Der Sturz des Kapitalismus ist eine absolute Notwendigkeit«

Sidal Keskin ist gerade in ein Wiener Bezirksparlament eingezogen. Mit ihrer kämpferischen Antrittsrede hob sich die Linkspolitikerin von Abgeordneten anderer Parteien ab

  • Michael Bonvalot
  • Lesedauer: 6 Min.

Als Sidal Keskin von der Bündnispartei Links am 2. Dezember ihre Antrittsrede als Abgeordnete zum Bezirksparlament von Wien-Ottakring beendet, sind viele andere Bezirksräte offenbar etwas entsetzt. Unmittelbar nach ihr geht eine grüne Abgeordnete ans Rednerpult im noblen Festsaal des Wiener Rathauses. »Das scheint ja sehr spannend zu werden die nächsten fünf Jahre«, seufzt sie etwas gequält ins Mikrofon. Und der Abgeordnete der FPÖ-Abspaltung »Team Strache« will den Vertretern von Links sagen, er »als Rechts« werde ihnen »selbstverständlich entgegenstehen«. Die Antrittsrede der linken Abgeordneten hat es tatsächlich in sich. Sie wolle »gegen dieses ausbeuterische System« kämpfen, ihr Ziel sei der Sturz des Kapitalismus. Sie wolle für eine Welt kämpfen, »in der alle Menschen würdevoll und frei leben«. Ihre Rede schließt Keskin mit der kurdischen Losung »Berxwedan Jîyan e!«, übersetzt: Widerstand heißt Leben!

Sidal Keskin, in Ihrer Antrittsrede haben Sie angekündigt, keine Kompromisse zu machen. Was bedeutet das für Sie?

Ich bin keine Regierungslinke, ich bin eine Oppositionslinke. Ich bin und bleibe Aktivistin. Ich will für die Interessen der Menschen kämpfen, die unter diesem System am meisten leiden. Das bedeutet für mich auch, beim Rechtsruck von SPÖ und Grünen nicht mitzuspielen. Deshalb habe ich als einzige Bezirksrätin gegen die Wahlvorschläge der SPÖ-Grün-dominierten Bezirksvorstehung gestimmt.

Sie sind jetzt Bezirksrätin in Ottakring. Der Bezirk gehört zu den einkommensschwächeren Gegenden von Wien. Dort leben viele Arbeiter*innen und viele Menschen mit Migrationsgeschichte. Warum sind Sie gerade dort angetreten?

Die Geschichte vieler Menschen in Ottakring ist auch meine Geschichte. Für mich ist es ein Anliegen, dass die Menschen von Leuten vertreten werden, die von denselben Unterdrückungsmechanismen betroffen sind wie sie selbst.

Die soziale Situation hat natürlich weiterreichende Folgen. Wer weniger Geld hat, ist von Gentrifizierung besonders betroffen. Ottakring ist ein sehr bunter und cooler Bezirk - leider treibt das die Mieten nach oben. Menschen mit weniger Einkommen werden vertrieben, weil sie sich die Mieten nicht mehr leisten können.

Bei Ihrer Kandidatur für Links haben Sie sich als »Handelsangestellte, Köchin und Studierende« vorgestellt. Ihr Studium nennen Sie erst am Schluss. Wie wichtig sind Ihnen Ihre verschiedenen Identitäten?

Extrem wichtig. Ich bin in Herzogenburg aufgewachsen, einer kleinen Industriestadt westlich von Wien. Mein Vater war Metallarbeiter in einer Gießerei, heute ist er Staplerfahrer. Meine Mutter war Reinigungskraft. Heute kann sie nicht mehr arbeiten, weil sie gesundheitliche Probleme hat.

Der Weg in die politische Aktivität war da eher nicht vorgezeichnet?

Ich habe einen kurdisch-alevitischen Hintergrund, Politik spielte immer eine wichtige Rolle. Aber in verschiedenen Punkten waren meine Eltern und ich nicht einer Meinung. Doch als ich begonnen habe, mich intensiver mit Politik zu beschäftigen, hat auch ihre Politisierung nochmals ein neues Gesicht bekommen, sie sind sicher weiter nach links gegangen.

Wie haben Sie die Gesellschaft erlebt, in der Sie aufgewachsen sind?

Die Spaltung habe ich immer stark gespürt. In der Volksschule wollten die Kinder aus österreichischen Familien mit uns Migrant*innenkindern nichts zu tun haben. Rassistische Bemerkungen habe ich immer wieder gehört. Zusätzlich gab es diese unsichtbare Wand. Du bist automatisch nur mit Migrant*innenkindern in einer Freundesgruppe.

Wie schwierig war es, in dieser Gesellschaft zu leben?

Als ich in die Volksschule gekommen bin, habe ich kein Wort Deutsch gesprochen. Ich musste die Sprache erst lernen und habe dann schnell aufgeholt bei der Leistung. Eigentlich hätte ich ins Gymnasium gehen können, doch meine Lehrerin hat auf meine Eltern eingeredet, ich solle lieber in die Hauptschule gehen. Das Gymnasium wäre angeblich zu schwierig für mich gewesen.

Klingt absurd. In Wirklichkeit waren Sie offensichtlich schlauer als die meisten anderen Kinder. Sie hatten bessere Noten, obwohl Sie zuerst noch Deutsch lernen mussten.

Stimmt! (lacht) Die Wand ist eben immer da. Nach der Hauptschule bin ich in eine Schule für wirtschaftliche Berufe. Parallel habe ich begonnen, mich in der Alevitischen Jugend zu engagieren. Das war für mich sehr wichtig, um eine Identität zu finden. Einerseits bist du Teil dieser Gesellschaft, andererseits bist du anders. Das ist nicht immer einfach.

Im Türkischen gibt es dafür das Wort »köksüz«, wurzellos.

Ja, das beschreibt es sehr gut. Ich wollte wissen, welche Auswirkungen die Machtverhältnisse in unserer Gesellschaft auf mein Leben haben. Ich wollte die Welt verstehen. Und ich wollte verstehen, warum bestimmte Ungerechtigkeiten so sind, wie sie sind. Als ich das verstanden habe, habe ich mich radikalisiert.

Wie war dann der Schritt zum Aktivismus?

Nach der Schule bin ich nach Wien gegangen und habe begonnen, Politikwissenschaften zu studieren. Gleichzeitig habe ich begonnen, mich zu engagieren, etwa für Queerfeminismus, Tierrechte oder bei Riseup4Rojava für die Rechte der Kurd*innen. Dann habe ich bei verschiedenen Organisationen reingeschnuppert, etwa bei den Jungen Grünen. Die waren aber nichts für mich.

Jetzt sind Sie bei Links aktiv. Wie kam das?

Sehr wichtig war für mich die Bewegung gegen die rechte Koalitionsregierung von ÖVP und FPÖ. Als in Wien regelmäßige Donnerstagsdemos gegen die Regierung begonnen haben, bin ich mit auf die Straße gegangen.

Die Gruppe, die diese Demos organisiert hat, war dann zentral für die Gründung von Links vor knapp einem Jahr. Da war ich von Anfang an dabei. Wir sind Menschen aus verschiedenen linken Bewegungen und Organisationen, die zusammengekommen sind, um gemeinsam die neue Partei aufzubauen. Das hat eine ziemliche Dynamik ausgelöst.

Im Wahlkampf ist Ihre Partei mit Slogans wie »Scheiß Dich nicht an, wähl Links« aufgefallen.

In Österreich gibt es seit vielen Jahren das Argument, dass Stimmen für linke Parteien angeblich verloren wären. Das wollten wir ansprechen - hat offenbar funktioniert! Hoffentlich ist dieses Argument jetzt endlich vom Tisch.

Durch den Wahlerfolg und die Parteienförderung hat Links jetzt ein gewisses Budget. In den Bezirken, wo mehr als ein Mandat geschafft wurde, bekommt die erste Person auf der Liste sogar rund 1400 Euro im Monat. Was wollen Sie mit dem Geld machen?

Wir schauen uns die Bedürfnisse natürlich individuell an, aber grundsätzlich geht das Geld in die politische Arbeit. Mit der Parteienfinanzierung haben wir wachsende Möglichkeiten, die wir jetzt nutzen wollen. Wir wollen etwa soziale Zentren in verschiedenen Bezirken aufbauen.

Und was werden Sie in den Bezirksvertretungen tun?

Wir werden sicherlich nicht beim Kampf um Radwege stehen bleiben. Wir werden uns auch sicher nicht auf die Bezirksratssitzungen beschränken. Unser Ziel ist, die Bewegungen, die auf der Straße stattfinden, in die Vertretungskörper zu tragen. Natürlich werden wir selbst auch die Kämpfe auf den Straßen weiterführen.

Unser Aktivismus hört nicht auf, weil einige von uns jetzt gewählte Funktionen übernommen haben. Ich werde konsequent und kompromisslos linke Politik machen. Der Sturz des Kapitalismus ist für mich sicher keine Utopie, sondern eine absolute Notwendigkeit.
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