Raclette-Dilemma

Corona Privat

  • Sebastian Weiermann
  • Lesedauer: 2 Min.

Seit ein paar Jahren laden meine Frau und ich meine Schwester und meine Schwiegermutter am Weihnachtsabend ein. Der Ablauf des Abends: Geschenke, Raclette essen, ein Gesellschaftsspiel - und wenn das vorbei ist, sitzt die Schwiegermutter noch auf dem Sofa und strickt die Socken, die sie uns schenkt, zu Ende. Das Raclette spielt eine zentrale Rolle, denn es braucht viel Zeit, die Pfännchen zu füllen, und das Essen selbst bietet ein gutes Gesprächsthema.

Doch jetzt ist Corona da. Beim Raclette, so meine Frau, würden wir stundenlang am Tisch sitzen und Aerosole verteilen. Dazu alles, was jeder anfasst und vielleicht anspuckt: Fleisch, Kräuterbutter, Brot. Mein Einwand, die Dinge würden ja erhitzt, weshalb keine Ansteckung mehr möglich sei, zählte nicht wirklich. Stichwort: Fleisch und Butter. Auch hierfür fand ich eine Lösung. Jeder bekommt ein persönliches Brötchen und eine Butter zugeteilt. Und außerdem, was soll es denn für Alternativen zum Raclette geben? Auflauf, Braten oder Pizza schlug meine Frau vor.

Ich fand das alles nicht festlich genug, und außerdem seien es unsere Gäste nicht gewöhnt, ihr Essen auf Sessel und Sofas, wo es genug Abstand gibt, auf den Knien zu balancieren und zu schneiden. Außerdem hätten weder Drosten noch Lauterbach vor Raclette gewarnt, und das würden sie doch sicher tun, wenn es gefährlich wäre. Ein Killerargument, wie ich annahm. Meine Frau machte es mit einem Wort kaputt: »Eigenverantwortung«.

Also einigten wir uns auf ein Raclette unter besonderen Bedingungen. Statt in der fensterlosen Essdiele wird im Wohnzimmer gespeist, und alle 20 Minuten wird gelüftet. Es gibt personalisierte Kräuterbutter und Brötchen. Wenn Sie diesen Text lesen, verrücke ich gerade die Möbel, ärgere mich über die Wollmäuse unterm Sofa und schwinge hektisch den Staubsauger.

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