Gefährliche Krisenbewältigung

In der Pandemie nimmt der Konsum von Rauschmitteln in Berlin massiv zu

  • Maximilian Breitensträter
  • Lesedauer: 4 Min.

Existenzangst, soziale Isolation, Langeweile in den eigenen vier Wänden: Der Lockdown stellt die Menschen auf eine harte Probe. Nicht Wenige versuchen, mit Hilfe von Rauschmitteln wie Alkohol und Drogen vor der Monotonie und den neuesten Corona-Schreckensmeldungen zu flüchten. Mit gravierenden Folgen für die Gesundheit, wie die Kaufmännische Krankenkasse (KKH) warnt: Der Anteil der Versicherten, die wegen einer Abhängigkeit, Entzugserscheinungen, eines akuten Rausches oder psychischen Problemen aufgrund von Alkohol ärztlich behandelt werden mussten, ist laut der Krankenkasse in den vergangenen zehn Jahren in der Hauptstadt um 34 Prozent gestiegen. Für ganz Deutschland gerechnet lag der Anstieg der sogenannten Rauschtrinker im Versicherungsjahr 2019/20 sogar bei rund 37 Prozent.

Demnach wiesen bundesweit zuletzt rund 28 000 KKH-Versicherte einen exzessiven Alkoholkonsum auf. Hochgerechnet auf die Gesamtbevölkerung sind das 1,3 Millionen Menschen. In Berlin sind der KKH zufolge etwa 80 000 Menschen betroffen. Die Dunkelziffer dürfte aber höher sein, da nur ärztlich diagnostizierte Fälle von der Versicherung erfasst werden. Auch wenn in diese Zahlen Daten aus dem vergangenen Jahr und damit vor der Covid-19-Pandemie eingeflossen sind, gibt es aktuell keine Entwarnung - im Gegenteil. Bereits Ende Oktober hatte die KKH in einer Forsa-Umfrage herausgefunden, dass seit Pandemiebeginn mehr Menschen Alkohol trinken. Das Meinungsforschungsinstitut hatte 1005 Personen im Alter von 16 bis 69 Jahren online befragt. Das Ergebnis: Jeder dritte Mann und rund jede fünfte Frau trinkt mehrmals in der Woche Alkohol, neun Prozent der Männer und fünf Prozent der Frauen sogar täglich. Fast ein Viertel derjenigen, die ohnehin mehrmals wöchentlich Wein, Bier, Sekt oder Schnaps konsumieren, gaben an, dies in der Corona-Pandemie noch häufiger zu tun.

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Die Weltgesundheitsorganisation WHO hatte bereits zu Beginn der Pandemie vor einem steigenden Drogen- und Alkoholkonsum gewarnt. Forscher des Universitätsklinikums Nürnberg und des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit Mannheim zeigten in einer Studie, dass diese Warnung berechtigt ist. »Während des Lockdowns entsteht eine Situation, in der für manche Menschen subjektiv mehr Gründe für einen vermehrten Alkohol- oder Tabakkonsum sprechen als dagegen«, schreiben sie. Hilfen für Gefährdete sollten daher frühzeitig implementiert werden, so eine Empfehlung.

»Fehlender sozialer Kontakt und die vielen Ungewissheiten in der Corona-Pandemie sind definitiv Motive für einen verstärkten Alkoholkonsum«, sagt Marc Pestotnik, Referent bei der Fachstelle für Suchtprävention Berlin zu »nd«. In Krisenzeiten seien Rauschmittel für viele Menschen eine Art Bewältigungsmechanismus. »Alkohol und Medikamente sind leicht zugänglich, sie entspannen und beruhigen und vertreiben vermeintlich Ängste und Sorgen«, erläutert er.

Insbesondere Menschen, die grundsätzlich zu einem regen Konsum von Rauschmitteln neigen, liefen in Corona-Zeiten Gefahr, ein Suchtverhalten zu entwickeln. »Gerade jetzt in der Krise ist es daher entscheidend, dass Thema Sucht zu enttabuisieren, um die Gefahren so früh wie möglich zu erkennen«, sagt Pestotnik. Die Fachstelle für Suchtprävention arbeitet seit 2005 im Auftrag der Senatsgesundheitsverwaltung und hält auch in der Pandemie ihre Beratungsangebote aufrecht - digital mit Einzel-Chats und per Telefonsprechstunde. »Wir sehen aktuell einen gesteigerten Bedarf an Beratungsformaten«, sagt Pestotnik.

Einen in der Coronakrise gestiegenen Bedarf an Unterstützung für Suchtkranke stellt auch Nina Pritzens fest. Sie ist Geschäftsführerin der Vista gGmbh, einem Berliner Unternehmen, das an 15 Standorten in der Hauptstadt Menschen in psychosozialen Notlagen betreut. »Menschen, die schon vor der Krise Probleme hatten, trifft es jetzt besonders hart«, sagt sie.

In Berlin gibt es ein mehrstufiges Hilfesystem für Suchtkranke. Dazu zählen neben den Beratungsstellen Entzugsstationen der Krankenhäuser, Entwöhnungskliniken, ambulante Einrichtungen und Selbsthilfegruppen. Brechen diese Strukturen weg, steigt auch die Gefahr für Rückfälle.

Gerade der coronabedingte Wegfall von Selbsthilfegruppen im Lockdown mache vielen alkoholkranken und abhängigen Menschen zu schaffen, sagt Pritzens. »Nach dem ersten Shutdown im März waren wir froh, dass wir wieder mit unseren Gemeinschaftstreffen starten konnten«, erklärt er. Es habe einen Beratungsstau gegeben, der sich erst langsam aufgelöst hat. »Jetzt ist es wichtig, dass wir unsere Angebote aufrechterhalten, denn wenn Abhängige ihre Familie und Freunde nicht mehr treffen können, ist die Situation besonders schwer.«

Im Lockdown bieten die Vista-Standorte Telefonberatungen und Gruppenchats an. Wer dringend Hilfe benötigt, kann auch einen Termin zur persönlichen Einzelberatung vereinbaren. »Dass es trotz Corona immer noch die Möglichkeit zum persönlichen Gespräch gibt, ist für Menschen, die keinen Zugriff auf das Internet haben, enorm wichtig«, sagt die Vista-Chefin. Über Weihnachten und Neujahr werden einzelne Beratungsstandorte ihre Angebote weiterführen. Erfahrungsgemäß steige in dieser Zeit die Nachfrage noch einmal. »Menschen, die alleine und abhängig sind, erleben Weihnachten und Silvester häufig als belastend.«

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