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Aufstand gegen den Neoliberalismus

Die in Chile lebende Journalistin Sophia Boddenberg zeigt in ihrem Buch »Revolte in Chile« den Weg von den sozialen Protesten bis zur Verfassungsreform

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 4 Min.

Chile bekommt eine neue Verfassung. Mit überwältigender Mehrheit haben sich die Menschen in dem südamerikanischen Land bei einem Referendum Ende Oktober vergangenen Jahres für eine neue Verfassung ausgesprochen, die es nun noch auszuarbeiten gilt, und zwar ohne die Beteiligung der Parlamentsparteien. Es geht in Chile um einen demokratischen Prozess von unten. Ausgangspunkt waren ab Oktober 2019 die »Estallido social« genannten Proteste, die »soziale Explosion«, die die politische Landkarte Chiles nachhaltig verändert hat.

Aber wer sind die Akteure dieser erfolgreichen Protestbewegung? Und was hat sich im Lauf des vergangenen Jahres abgespielt, seit die Aktionen zivilen Ungehorsams und die Demonstrationen anlässlich einer Fahrpreiserhöhung der U-Bahn zu einem regelrechten Aufstand führten, der auch mit heftigen staatlichen Repressionen einherging? In ihrem gerade erschienenen Buch »Revolte in Chile« fächert die seit einigen Jahren in Santiago de Chile lebende Journalistin Sophia Boddenberg das Panorama dieser gesellschaftlich breit verankerten Bewegung auf und gibt einen aufschlussreichen Überblick zur jüngeren chilenischen Geschichte und verschiedenen politischen Kämpfen, die in diesem Prozess eine tragende Rolle spielen. Die Proteste hatten Vorläufer.

Bereits am 8. März 2019 gingen in Chile mehr als eine Million Frauen auf die Straße, im Juni folgte ein Streik der Lehrer. Die 30 Pesos mehr für den Fahrschein ab Oktober bedeuteten zwar für viele der zahlreichen Pendler im urbanen Großraum von Santiago de Chile einen spürbaren Einschnitt, aber die daraus entstandenen Proteste wurden schnell zu einem viel grundlegenderen politischen Kampf, in dem es auch um das Erbe der Pinochet-Diktatur und deren wirtschaftspolitisches Vermächtnis ging. Denn Chile ist das Musterland des Neoliberalismus, das nach dem Militärputsch 1973 einer wirtschaftspolitischen »Schocktherapie« unterzogen wurde.

Diese Bezeichnung wählte der Wirtschaftswissenschaftler Milton Friedman in einem Brief 1975, ein Jahr bevor er in Stockholm den Wirtschaftsnobelpreis verliehen bekam, an den chilenischen Diktator. Einige der Studenten Friedmans aus Chicago wurden in Ministerämtern zu ausführenden Organen dieser »Schocktherapie«, die später weltweit Anwendung fand, wie Naomi Klein in ihrem Buch »Die Schock-Strategie« betont. Boddenberg schlüsselt übersichtlich die Wirkung der »Chicago Boys« genannten Milton-Scgüler auf, von denen einer der Bruder des heutigen chilenischen Regierungschefs und Milliardärs Sebastián Piñera ist.

Boddenbergs knapp 150 Seiten langes, gut lesbares Buch, das mit zahlreichen Abbildungen die Protestbewegung auch sehr lebendig illustriert, lässt die chilenische Geschichte und die Ereignisse aus dem Oktober 2019 Revue passieren, als plötzlich 30 Jahre nach dem Ende der Diktatur das Militär wieder auf den Straßen patrouillierte, nachdem der Präsident den Ausnahmezustand verhängt hatte. Sie nähert sich in ihrem Buch den einzelnen Akteuren reportageartig, egal ob es die militanten Kämpfer aus der »Primera Linea« sind, die den Protestraum gegen polizeiliche Übergriffe absichern, oder die Vertreter von Nachbarschaftsorganisationen, die maßgeblich an der Verankerung der Bewegung im Alltag der Menschen mitgewirkt haben.

Boddenberg hat auch mit vielen Frauen gesprochen, denn die chilenischen Feministinnen, die mit ihrer vergangenen Winter massenhaft verbreiteten Tanzperformance »El violador eres tú« (auf Deutsch »Der Vergewaltiger bist du«) weltweit Aufsehen erregten, spielen eine zentrale Rolle in der sozialen Protestbewegung. Und auch die indigene Bevölkerung hat im vergangenen Jahr auf der politischen Bühne Chiles eine neue Sichtbarkeit erlangt. Die Auseinandersetzungen auf dem Land, wo schon seit Jahren kleine Bauern für Umweltstandards gegen die Agrarindustrie kämpfen, sind gerade für deutsche Leser von Interesse. Denn die in hiesigen Supermärkten massenhaft angebotenen Avocados kommen nicht selten aus Chile, wo deren Anbau katastrophale ökologische Folgen hat.

Sophia Boddenbergs Buch bringt den Leser unkompliziert auf den Stand, um die Bewegung in Chile in ihrer ganzen Vielfalt einordnen zu können. Das ist vor allem deshalb interessant, weil nirgendwo sonst das neoliberale Regime als solches von einer so breiten Protestbewegung wie im Zuge des chilenischen Verfassungsreferendums so erfolgreich infrage gestellt wird. Auch wenn die Medien hierzulande viel darüber berichtet haben, stößt Boddenbergs Buch die Leser noch einmal auf einige Punkte, die in der hiesigen Berichterstattung kaum eine Rolle spielten. Denn gerade die EU hat wirtschaftspolitische Interessen und Erwartungen an Chile, die nicht unbedingt mit einer neuen sozialen Politik jenseits der derzeit gültigen neoliberalen Standards kompatibel sind.

Dass in dem Land, dessen Polizei laut UN-Hochkommissariat für Menschenrechte »grundlegend repressiv« auch gegen friedliche Demonstrierende vorgeht, auch deutsche Polizeibeamte beratend tätig waren, lässt aufhorchen. »Die Berliner Polizei und politische Vertreter des deutschen Innenministeriums erläuterten einen Teil ihrer taktischen und operativen Strategien zur Isolierung und Festnahme gewalttätiger Gruppen«, wie die Tageszeitung »La Tercera« im März vergangenen Jahres berichtete. Auch wenn die Bundesregierung der Meinung ist, dass durch den Besuch einiger Beamter in Chile eine weitere Eskalation vermieden werden könne, sollte man hier mehr als nur skeptisch sein.

Sophia Boddenberg: Revolte in Chile. Unrast-Verlag, 144 S., br., 14 €.

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