Tage des Taumelns

Das lang erwartete neue Album der Indiegötter von The Notwist »Vertigo Days«

  • Jan Paersch
  • Lesedauer: 5 Min.

Draußen nieselt es, das Thermometer zeigt sechs Grad. Ein Altbauensemble im Münchner Dreimühlenviertel, keine 300 Meter von der Isar entfernt. Hier nehmen The Notwist ihr neues Album auf. Es ist ihr bestes seit beinahe 20 Jahren. The Notwist - das war die Band, die Ende der Achtziger mit brachialem Rock begann und dann mit jeder Platte feinfühliger wurde. Die Band, die vermutlich noch immer die einzige anspruchsvolle deutsche Gruppe ist, die in den USA eine nennenswerte Fanbase besitzt. Anspruchsvoll? Man könnte auch sagen: verkopft, rätselhaft, nerdig, eklektisch, kompromisslos. Und somit: relativ cool.

The Notwist: das war immer vor allem das Projekt zweier Brüder. Einst trugen Markus und Micha Acher Dreadlocks, versuchten sich an Punk und Grunge, tourten mit Genre-Größen wie Therapy? und Bad Religion. Ein britisches Musikmagazin fragte, in Anspielung auf die von den Achers befruchtete Szene in der bayrischen Kleinstadt: »Is Weilheim The New Seattle?«. Dann kamen Platten, auf denen sie mit Electronica und Jazz flirteten.

Nun sitzen die Brüder in einem mit Studio-Equipment voll gestellten 15-Quadratmeter-Zimmer. Micha in einem Sessel, dem langjährigen Produzenten Olaf Opal zugewandt, Markus auf der Fensterbank, gedankenverloren in den bayerischen Regen starrend. Die ersten Songs für Album Nummer zehn sind fertig. Das Datum: der 5. März 2020. Genau acht Tage, bevor der erste Lockdown beschlossen wird. Noch ist die Welt in Ordnung, noch plant Deutschlands »größte kleine Band« (»Welt«) ganz reguläre Sommerkonzerte und eine Album-Veröffentlichung im Herbst.

Ein Magazin schrieb einmal über Markus und Micha Acher, sie wirkten immer, als hätten sie gerade den ersten Kaffee des Tages getrunken und würden nun überlegen, was sie mit den restlichen Stunden anfangen sollten. Frage an den Wollpulloverträger mit den leicht zerzausten Haaren, an Markus Acher also: Erkennt ihr euch in dem Satz wieder? »Bayern halt.« Reporter: »So sind Bayern?« Acher: »Manche schon.«

Ein scheuer Blick, ein kaum vernehmbares Lachen - die Brüder wissen schon, dass sie ein bisschen schräge Vögel sind. Versteht sich von selbst, dass die beiden nicht den Habitus von Popstars haben. Und dass sie gerade deshalb die Lieblinge des Feuilletons sind.

Brachial klingt die Musik von The Notwist schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Elektronische Musik, Folk, Jazz und eine Art sensibler Kammer-Pop liegen den feinfühligen Kompositionen dieser Männer zugrunde, die sich angeschickt haben, von Bayern aus der Welt eine kratzige Wollpulli-Umarmung zu verpassen.

Denn diese Musik wärmt. Zu den beliebtesten Stücken der Band zählen diese wehmütigen Songs, die man Balladen nennen könnte, wenn sie nicht so eigenartig wären: mit Akustikgitarren, leicht schiefen Keyboards, irritierenden Beats und dem unnachahmlich brüchigen Gesang. »Was am ehesten den Notwist-Sound darstellt, ist Markus’ Stimme. Das Drumherum verändert sich immer wieder«, sagt Micha Acher.

»Night’s too Dark«, »Loose Ends« und »Into Love Again« heißen die Balladen auf dem neuen Album. Dessen Titel: »Vertigo Days«. Tage des Taumelns.

Markus und Micha Acher sind noch immer die kreativsten Indie-Schluffies des Landes. Aber ganz sicher sind sie nicht plötzlich altersmilde geworden. Das zeigt schon das trippige Drumloop, dass das Album eröffnet, in Begleitung von Horrorfilm-gleich hochgepitchten Vocals. Schräge Samples, psychedelisch ausfransende Outros: die Neigung zu einer leicht nervtötenden Überlänge haben die Brüder nicht abgelegt.

Die Band, zu deren Kern noch der deutlich jüngere Multiinstrumentalist Cico Beck gehört, erlaubt beim Studiobesuch im März 2020 nur einen kleinen Einblick in ihre kreative Arbeit. Sie vermitteln den Eindruck, dass »Vertigo Days« zum allergrößten Teil abgeschlossen sei. Falsch gedacht - während des April-Lockdowns sollten die drei bereits bestehende transatlantische Beziehungen vertiefen.

Einige der lässigsten und eigentümlichsten Musiker*innen der amerikanischen Kontinente haben The Notwist in dieser Zeit um Gastbeiträge gebeten. Das perkussiv flackernde »Al Sur« hat die argentinische Sängerin und Produzentin Juana Molina quasi im Alleingang gestaltet. »Oh Sweet Fire« ist der bemerkenswerteste Song der Platte, ein Duett zwischen Markus Achers sanfter Stimme und dem dunklen Sprechgesang des Chicagoer Künstlers Ben LaMar Gay; ein schizophrener Track voller wunderlicher Sounds, die von Keyboards oder Violinen stammen könnten - und darunter wummert ein behaglicher Soul-Bass.

»Genres sind mir egal«, so der Sänger, auf dem Münchner Parkettboden sitzend. »Ich finde Bands interessant, die sich gar nicht darum kümmern. Ich würde mir Sorgen machen, wenn man über uns sagen könnte: die klingen so und so.«

Nie klangen The Notwist so sehr nach dem herrlich-seltsamen Krautrock-Frühwerk von Can wie in den neuen Songs: »Exit Strategy«, »Ship« und »Into the Ice Age« - mit der Chicagoer Spiritual-Jazz-Aktivistin Angel Bat Dawid an der Klarinette.

Im März 2020 meinte Markus Acher noch, das Album solle »soundmäßig etwas Durchgehendes« bekommen; Songs, die im Zusammenhang Sinn ergeben würden. Im Januar 2021 erzählt der Sänger dann einem Blog, die Band hätte Collagenhaftes im Sinn gehabt, einen »Hip-Hop-Mix«.

Vermutlich stimmt beides. Bekanntes und Unbekanntes vermischen sich auf »Vertigo Days«, neue Stimmen und alte Instrumente. Markus’ in sich gekehrte Texte, die sich um Vertrautes wie dunkle Nächte und klingelnde Telefone drehen, treffen auf den surrealen spanischsprachigen Tagtraum von Juana Molina.

»Vertigo Days«, das famose zehnte Album von The Notwist, ist nun mit mehreren Monaten Verspätung im Januar 2021 erschienen. Ob die im Sommer anberaumten Konzerte stattfinden können, ist mehr als ungewiss. Es ist eine dunkle, kalte Zeit. Der Münchner Nachmittag vor zehn Monaten ist weiter weg denn je. Der Nachmittag, an dem die Notwist-Brüder den Autor nach dem Interview noch im Kombi zur nächsten U-Bahn fuhren. Micha umsichtig durch den furchteinflößenden Feierabendverkehr der Großstadt navigierend, Markus auf dem Rücksitz einen Stapel LPs umklammernd. Man saß nah beieinander, und die größte Sorge waren nicht Impfstoffe, sondern Mietpreise. Man gab sich die Hand zum Abschied.

Damals wie heute weiß die Kunst Trost zu spenden. Und sei es die Gewissheit, dass auf Kummer neue Liebe folgt. Der Song »Into Love«, pluckernde Synthies und die leise Stimme von Markus Acher: »Now that you know how much it hurts/Won’t save you from falling into love again«.

The Notwist »Vertigo Days« (Morr)

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