Libyen drohen neue Machtkämpfe

In dem nordafrikanischen Land gibt es eine Übergangsregierung. Sie soll die Milizen entwaffnen

  • Philip Malzahn
  • Lesedauer: 4 Min.

Über den Premierminister der neuen libyschen Übergangsregierung ist wenig bekannt. Der 59-jährige Abdelhamid Dbaiba stammt aus Misrata im Westen Libyens. Er hat einen Abschluss in Ingenieurwissenschaften aus Kanada. Über seine politische Ausrichtung kursieren weitaus mehr Gerüchte als Fakten. In einem Korrespondentenbericht der Nachrichtenagentur dpa heißt es, er sei »Aktivist und Geschäftsmann«. An der Unbefangenheit Dbaibas gibt es erhebliche Zweifel. Laut dem arabischsprachigen Kanal des iranischen Nachrichtensenders »Al-Alam« besitzt er enge Verbindungen in die Türkei. Im November vergangenen Jahres hatten mehrere Abgeordnete behauptet, Familienmitglieder Dbaibas hätten ihnen Schmiergelder geboten, um ihre Stimmen für ihn als Premierminister zu sichern. Er selbst streitet diese Vorwürfe ab.

Abdelhamid Dbaiba steht seit Freitag als Premierminister fest, der zusammen mit dem dreiköpfigen Präsidialrat, angeführt vom Diplomaten Mohammed Al-Manafi, das gespaltene Land zu demokratischen Wahlen führen soll. Darauf einigten sich nach monatelangen Verhandlungen die Mitglieder des 75-köpfigen Libyschen Forums für politischen Dialog (LPDF) in Genf. Die unter UN-Vermittlungen entstandene Übergangsregierung soll die Einheitsregierung in Tripolis (GNA) ersetzen. In einer Rede in Genf am vergangenen Mittwoch sagte Dbaiba, er werde »Bildung als Weg zur Stabilität« einschlagen und sich neben der Ausarbeitung einer neuen Verfassung vor allem dafür einsetzen, dass offizielle staatliche Kräfte in Zukunft wieder die einzigen sind, die im kriegszerrütteten Land Waffen tragen dürfen.

Übergangspremier Dbaiba sprach damit das wohl größte Hindernis auf dem Weg zu einer libyschen Demokratie an. Denn dieser Weg gleicht einem Minenfeld: Libyen wird derzeit von zwei Parallelregierungen regiert. Immerhin konnten sich Militärvertreter der GNA unter Fajes Al-Sarradsch und der Libyschen Nationalen Armee (LNA), der Streitkräfte des Generals Khalifa Haftar im Osten, im Oktober auf einen Waffenstillstand einigen. Die konkurrierenden legislativen Organe, der Staatsrat im Westen Libyens und das Repräsentantenhaus im östlichen Tobruk, folgten dann mit der Vereinbarung zu einer Übergangsregierung, deren Aufgabe die Vorbereitung gemeinsamer Präsidentschaftswahlen am 24. Dezember sein wird.

Ob es jedoch überhaupt dazu kommt und ob das Ergebnis auch erfolgreich umgesetzt wird, hängt davon ab, ob jene Kräfte, die seit dem Sturz des Präsidenten Muammar Al-Gaddafi im Jahr 2011 um die Macht konkurrieren, bereit sind, sich einer Zentralregierung unterzuordnen. Die primäre Aufgabe der Übergangsregierung ist, die unzähligen Milizen zu entwaffnen und die Sicherheit im Land wiederherzustellen, damit die mehr als eine halbe Million Binnenflüchtlinge nach Hause zurückkehren und an den Wahlen teilnehmen können.

Bislang sorgen vor allem diese Gruppen dafür, dass progressive und kritische Stimmen im Land kaum zur Geltung kommen. Im Juli 2019 etwa wurde die Frauenrechtlerin und Abgeordnete Seham Sergiwa von einer mit Haftar verbündeten Miliz aus ihrem Haus entführt, nur wenige Stunden nachdem sie in einem Fernsehinterview das Vorgehen der LNA kritisiert hatte. Die Männer der 106. Brigade, auch als »Hüter des Blutes« bekannt, schossen bei der Entführung ihrem Ehemann in die Beine. Von Seham Sergiwa fehlt ein Jahr später noch immer jede Spur.

Parallel soll Libyen noch vor Dezember eine neue Verfassung erhalten, über die ein Referendum entscheiden wird. Ein erster Entwurf existiert bereits seit 2017, ausgearbeitet durch ein 60-köpfiges Verfassungsgremium. Die Verfassung sieht ein Präsidialsystem vor, das in Teilen sehr an den libyschen Staat unter Muammar Al-Gaddafi erinnert. Zumindest ist das der Grund, weshalb die Vertreter der größten ethnischen Minderheiten im Land, der Berber, sowie die Tuareg und Tubu aus dem Süden das Gremium boykottieren. Einen ethnisch-arabischen und zentralistischen Staat lehnen sie ab. Am kommenden Dienstag sollen sich Vertreter beider Parlamente und der Wahlkommission treffen, um über einen möglichen Termin für das Verfassungsreferendum zu verhandeln. Die Hürden für eine Einigung sind zahlreich, und die Zweifel überwiegen, ob alle Gruppen, die vom andauernden Chaos profitieren, wirklich entwaffnet werden können.

Trotzdem bieten die für den 24. Dezember angesetzten Wahlen einen Hoffnungsschimmer für viele Libyer. Denn nach acht Jahren Bürgerkrieg, der mit Protesten gegen Muammar Al-Gaddafi begann und mit der Hoffnung auf ein besseres und selbstbestimmtes Leben verbunden war, liegt das Land am Boden. Russland, die Vereinigten Arabischen Emirate, Ägypten, der Sudan, Frankreich, die Türkei und weitere Staaten versuchen, mit ihrer Unterstützung für die konkurrierenden Seiten eigene Interessen im erdölreichen Land auf Kosten der Bevölkerung durchzusetzen. Eigentlich sollten laut Waffenstillstandsvereinbarung bis zum 23. Januar sämtliche ausländischen Kräfte das Land verlassen haben. Doch dafür gibt es keinerlei Anzeichen. Im Schatten der zaghaften diplomatischen Erfolgsmeldungen aus Genf werden vielmehr verstärkte Truppenbewegungen an der Front vermeldet, die kurz vor Sirte verläuft, der Heimatstadt Gaddafis in Zentrallibyen. Die Zukunft Libyens bleibt auch mit einer neuen Übergangsregierung unwägbar.

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