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Aus der Perspektive von Bienen

Bauen in menschlichem Maßstab: Die Ausstellung »Human Scale Remeasured« in der Aedes-Galerie in Berlin

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 4 Min.

Besser, gerechter und schonender leben nach der Pandemie? Die Hoffnung war groß während des ersten Lockdowns, dass die Konfrontation mit Tod und Sterben durch das Virus, aber auch die Kollektiverfahrung, dass Wirtschaftssystem und Arbeit nicht die allererste Priorität haben, zu einem verstärkten Nachdenken über neue, solidarischere Formen des Lebens führen könnten.

Einen Lockdown später bestimmen Verteilungskämpfe um Impfstoffe und Förderprogramme sowie Branchen-, Regionen- und Gruppenbezogene Egoismen den Alltag. Ein Produkt der Aufbruchstimmung nach dem ersten Schrecken im letzten Frühjahr ist die Initiative »Human Scale Remeasured« des Aedes Network Campus Berlin (ANCB). Der ANCB ist die Diskurs- und Experimentierabteilung der Architekturgalerie Aedes. Kristin Feireiss und Hans-Jürgen Commerell, die Leitfiguren von ANCB und Aedes-Galerie, riefen über ihr mehr als 20 000 Architekturbüros, universitäre Institutionen und Einzelpersonen umfassendes Netzwerk zur Einreichung von Projekten auf, die das Bauen und Planen auf eine dem Menschen gemäßere und die Umwelt schonendere Basis bringen sollen. Mehr als 100 Einsendungen aus aller Welt kamen. 15 von ihnen werden in einer Ausstellung vorgestellt.

Die Art der Präsentation ist zugleich eine Hommage an Berlin. Denn die 15 Projekte befinden sich auf 15 senkrecht aufgestellten Röhren, die in Form und Proportion an die Litfaß-Säulen erinnern - jene Werbeträger, mit denen der Berliner Drucker Ernst Litfaß bereits 1954 das wilde Plakatieren im Stadtbild zu ordnen versuchte. Auf der Außenseite der neuen Säulen in der Galerie befindet sich jeweils eine Projektbeschreibung auf deutsch und englisch sowie Fotos und Pläne. Anders als bei den Litfaßsäulen im Stadtbild wird hier auch das Innere genutzt. Hier ist die Gestaltungsfreiheit größer. Manche Projektbeteiligte haben Videos und Fotos von der Realisierung eingebracht. Andere zeigen Detailansichten. Ins Auge sticht hier ein Wandteppich aus Bangladesch, der auf dem Textil den Grundriss von Anandaloy, eines Zentrums für Inklusion und faire Textilproduktion, zeigt. Das mehrstöckige Gebäude, entworfen vom Studio Anna Heringer aus Bayern, wurde hauptsächlich aus den lokalen Materialien Bambus und Lehm gebaut und von Unternehmen aus der Nachbarschaft errichtet. Es enthält sowohl Therapieräume für Menschen mit Beeinträchtigung als auch Schneiderateliers. Landesweite Bedeutung erfuhr das Projekt, weil Behinderungen und Einschränkungen in Bangladesch traditionell als Zeichen für schlechtes Karma angesehen werden und Menschen mit Beeinträchtigung daher noch stärker marginalisiert werden als hierzulande. Die breite Rampe, die Rollstuhlfahrer*innen den Zugang zu den höheren Ebenen gestattet, soll sogar die erste überhaupt in der gesamten Region Dinajpur sein.

Auch andere Projekte sind Beispiele für die Wertschätzung der Menschen vor Ort. Das Wiener Büro nonconform zeigt, wie durch Mitarbeit der Anwohner*innen durch eher kleinere gestalterische Interventionen der sich entleert habenden Innenbereich des etwa 12 000 Einwohner*innen zählenden Orts Trofaiach in der Steiermark wiederbelebte. Entleerung von Ortskernen ist ein Problem in ganz Europa.

Regelrecht bezaubernd ist der Ansatz der Stadtverwaltung von Curridabat, einem Siedlungsgebiet mit etwa 32 000 Einwohner*innen in Costa Rica. Im Projekt »Sweet City Vision« wurden Bevölkerung und Stadtplaner*innen aufgefordert, den urbanen Raum aus der Perspektive von Bienen wahrzunehmen und so Denkansätze für eine bessere Gestaltung der Stadt zu gewinnen.

Mehrere andere Projekte setzten sich mit der Verschränkung von kollektiven und individuellen Wohnformen sowie den Anforderungen, die alternde Gesellschaften an die Baukultur zu stellen. Wie gestaltet man Wohn- und Arbeitsraum für Pflegepersonal und zu Betreuende? Wie müssen Gänge und Räume für Rollatoren und Rollstühle beschaffen sein? Wie anders wird ein Raum, wenn man ihn vornehmlich sitzend erfährt?

Neben sehr praktischen, konkreten, mitunter auch sehr kleinteiligen Projekten enthält »Human Scale Remeasured« auch visionäre Entwürfe. Das Studio Other Architects aus Sydney etwa denkt in »Burial Belt« über ganz neue Bestattungsformen nach. Australische Städte sollten Weideland erwerben, dort Menschen bestatten, die Grabstellen aber nicht mit Steinen und Platten versehen, sondern Wälder darauf anpflanzen. Über GPS-Koordinaten, also digitale Daten anstelle physischer Erinnerungstafeln, könnten Hinterbliebene dann den Standort lokalisieren, schlagen Other Architects vor. Breite Grünstreifen können so die Städte umschließen und die CO2-Bilanz verbessern.

Ähnlich radikal ist »Hypercity 2130« vom Berliner Büro IMKEWOELK. Es will Autobahnen renaturalisieren und durch neue Transportsysteme wie Magnetschwebebahnen, die weniger Lärm und weniger Emissionen verursachen, zu einer engeren Verzahnung von Verkehr, Wohnen und Arbeiten gelangen. Auf diese Art und Weise könnte der Flächenverbrauch reduziert werden - der wohl wichtigste Beitrag, den Architektur und Stadtplanung zur Verbesserung der Klimabilanz leisten können.

»Human Scale Remeasured« gibt wichtige Denkanstöße. Neben den Projekten der 15 Architekturbüros werden noch zehn studentische Initiativen präsentiert. Charmant ist dabei die Überlegung einer Studierendengruppe der TU München, ein »Referat für Stadtverbesserung« einzurichten. Als Amtshandlung dieses Referats schlug sie die Begrenzung des Individualverkehrs auf der dreispurigen Schwanthalerstraße in München und deren schrittweise Umwandlung in ein Begegnungsareal aus sitzenden und gehenden Menschen vor.

Während des Lockdowns bleibt die Galerie geschlossen. Die Projekte sind aber in Form digitaler Kurzbeschreibungen über die Website zugänglich: www.aedes-arc.de

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