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Die Verteilungslotterie

Hilfsorganisationen beklagen fehlende Transparenz beim EU-Relocation-Prozess

  • Ulrike Wagener
  • Lesedauer: 3 Min.

»Ich bin nicht nach Deutschland gekommen, Deutschland ist zu mir gekommen«, sagt Musa Khalifa. Der heute 25-jährige Geflüchtete lebt seit Dezember 2019 in Potsdam - ausgesucht hat er sich seine neue Heimat jedoch nicht. Nachdem er 2016 aus seinem Herkunftsland Nigeria fliehen musste, kam er über die Sahara, die libyschen Gefangenenlager und das Mittelmeer nach Europa. Anfang 2019 erreichte der junge Mann dann Italien, wo er für rund neun Monate in einem abgelegenen Flüchtlingslager in Sizilien lebte. Im Dezember wurde er dann im Rahmen des Europäischen Relocation Programms nach Deutschland umgesiedelt. Informationen über den Prozess der Umsiedelung habe es kaum gegeben, geschweige denn Mitspracherecht, erzählt Khalifa dem »nd«. Einen Monat später wurde sein Asylgesuch vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) abgelehnt. Dagegen hat er Revision eingelegt. »Jeder, der nach Deutschland umgesiedelt wurde, sollte ein Bleiberecht bekommen«, findet er.

So wie Khalifa geht es vielen Menschen, die von der EU umgesiedelt werden. Er erzählt, dass die meisten derjenigen, die mit ihm in Deutschland Asyl gesucht haben, mittlerweile abgelehnt wurden. »Eine Lotterie vom Meer zu den Hotspots und zurück in die Unsicherheit«, heißt der Bericht, der am Freitag bei einer Veranstaltung des Flüchtlingsrats Berlin vorgestellt wurde. In Kooperation der Hilfsorganisationen wie Borderline Europe und Sea-Watch werden die Europäischen »Ad Hoc Relocations« beleuchtet, bei der Geflüchtete von den Ankunftsländern in andere Europäische Staaten gebracht werden. Zwischen Juli 2018 und März 2020 hat Italien etwa 175 Asylsuchende nach Deutschland überstellt, die zuvor aus Seenot gerettet wurden. Hier werden sie nach dem Königsteiner Schlüssel auf die Bundesländer verteilt. Die Hilfsorganisationen gehen von einer Ablehnungsquote zwischen 80 und 90 Prozent aus. Weil Deutschland bilateral die Zuständigkeit für das Asylverfahren übernommen hat, werden sie im Falle einer Abschiebung nicht nach Italien, sondern direkt in ihr Herkunftsland abgeschoben.

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Der Bericht kritisiert die Intransparenz des Verfahrens. Nora Brezger arbeitet beim Flüchtlingsrat Berlin und hat an dem Bericht mitgeschrieben. »Die Leute werden nicht darüber informiert, wie das Verfahren abläuft, in welchem Europäischen Land sie die besten Chancen auf Asyl hätten und dass ihnen nach der Relocation noch ein Asylprozess bevorsteht«, sagt Brezger zu »nd«. Und dieser gehe dann oft ganz schnell, häufig würden die Menschen ohne Rechtsbeistand und Beratung dastehen.

Für Menschen aus Ghana oder Senegal bedeute dies oft die schnelle Ablehnung des Asylantrags. Menschen aus diesen Ländern hätten in Frankreich oder Italien weitaus bessere Chancen auf einen Schutzstatus. Nach der sogenannten Malta-Vereinbarung sollen diese Chancen bei der Relocation berücksichtigt werden. Doch in einem Relocation-Flug im November 2019 stammten sechs der 21 umgesiedelten Personen aus Ghana, das in Deutschland als sicheres Herkunftsland gilt. »Es ist problematisch, dass Deutschland viele Menschen aufnimmt, die eine Staatsangehörigkeit haben, die hier eine geringe Anerkennungsquote hat und am Ende viele von ihnen eine Ablehnung erhalten«, sagt Clara Bünger, die Mitbegründerin der Hilfsorganisation Equal Rights Beyond Borders (Gleiche Rechte jenseits von Grenzen) zu »nd«.

Die Autor*innen des Berichts nehmen an, dass bereits in Italien eine Vorauswahl stattfindet. Viele der nach Deutschland umgesiedelten Personen erzählen, dass sie dort bereits zu Herkunftsland, Fluchtroute und Asylgrund befragt worden seien, teilweise von Beamten des BAMF. Fast die Hälfte der 26 Interviewten gaben an, dass ihnen dort die gleichen Fragen gestellt wurden, wie im späteren Asylverfahren in Deutschland. 22 von ihnen wurden bereits abgelehnt.

Eine weitere Kritik des Bündnisses betrifft die lang andauernde Unsicherheit, die es den Menschen unmöglich mache, ihr Leben zu planen. »Wir sind noch junge Menschen, aber uns wird keine Perspektive gegeben. Wir können nichts machen, nicht arbeiten oder zur Schule gehen«, sagt Musa Khalifa. Im Moment wartet er in Potsdam auf die Entscheidung des Gerichts.

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