Dachbodenfunde digital: Kriegsende in der Staatsbibliothek

Staatsbibliothek zu Berlin ruft zur Digitalisierung von alltäglichen Erinnerungen aus der Nachkriegszeit auf

  • Leonie Hertig
  • Lesedauer: 4 Min.
Im Digitalisierungszentrum der Staatsbibliothek zu Berlin
Im Digitalisierungszentrum der Staatsbibliothek zu Berlin

Wer hat sie nicht? Die Kiste auf dem Dachboden oder im Keller, mit alten Notiz- oder Tagebüchern, Zeugnisse und Postkarten. Oder vergessene Briefe zwischen den Seiten geerbter Bücher.

Für die Zeit der deutschen Nachkriegsgeschichte von 1945 bis 1950 will die Staatsbibliothek zu Berlin diese Wissensspeicher digital archivieren und zugänglich machen. Dazu ruft sie Bürger*innen auf, in den lange vergessenen Kisten zu kramen, die kleinen Privatarchive zu sichten und die kulturellen Schätze vom 16. Mai bis zum 30. Juni zu digitalisieren. Die Objekte werden auf der Webseite 1945.transcribathon.eu gesammelt und dann, wenn nötig, durch ein Team von Freiwilligen transkribiert. So könnten dann auch in Zukunft Menschen den in Sütterlin geschriebenen Brief lesen. Für das Citizen-Science-Projekt (Bürger-Wissenschafts-Projekt) arbeitet die Bibliothek mit dem Forschungsprojekt Facts & Files zusammen. Geleitet wird das Vorhaben von Ulrike Reuter, die in der Staatsbibliothek das Referat Forschungsdienste besetzt.

Wie bedeutsam und bewegend das Projekt ist, zeigt das Fahrtenbuch von Willi Krüger. »Der zweite Mann meiner Großmutter war Kraftfahrer während des Krieges«, erklärt Gudrun Nelson-Busch. Sie bewahrte mehrere Dokumente ihrer Familie auf. »Sie waren zu schade, um sie wegzuwerfen«, so Nelson-Busch. Die digitale Version des Fahrtenbuchs von Willi Krüger stellt sie dem Projekt zur Verfügung. Es ist akribisch geführt, erwähnt unter anderem das Ende des Krieges am 8. Mai. Erst am 16. November 1946 kehrte Krüger aus der Gefangenschaft nach Berlin zurück. In seinem Fahrtenbuch steht: »Der schönste Tag meines Lebens. Bin wieder frei und fahre nach Berlin.« Auch das Wiedersehen mit seiner Frau beschreibt er rührend: »Meine liebe Frau treffe ich auf der Treppe. Ein herzlicher Empfang.« Aber, wie Nelson-Busch erzählt, war es auch ein Tag des Auf und Ab. Denn am selben Tag erfuhr Krüger, dass sein damals 16-jähriger Sohn in den letzten Tagen des Krieges noch eingezogen worden war und seitdem als vermisst galt.

»Die Perspektive der Bürger*innen gibt uns spannende Einblicke, die sonst verloren gehen würden. Wir wollen sie retten und erhalten, um unser kulturelles Gedächtnis zu bewahren.«

Frank Drauschke Forschungsinstitut Facts & Files

Ziel des Projekts erklärt Frank Drauschke, Leiter des Projekts Facts & Files, das mit der Bibliothek zusammenarbeitet. Anstatt aus dem Elfenbeinturm wolle das Team von 1945.transcribathon.eu mit Bürger*innen zusammen Forschung betreiben. »Private Dokumente geben uns neue, nicht beachtete Perspektiven«, so Drauschke. »Die Perspektive der Bürger*innen gibt uns spannende Einblicke, die sonst verloren gehen würden. Wir wollen sie retten und erhalten, um unser kulturelles Gedächtnis zu bewahren.«

Das Team arbeitet seit 2011 an dem Projekt. 2014 setzte es das erste Mal die Digitalisierungskampagne an, damals für Dokumente aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. »Wir wurden von der Resonanz überrollt«, sagt Thorsten Siegmann, Referatsleiter für Digitalisierung der Bibliothek. Bis zu 300 Menschen besuchten die Bibliothek, um Objekte, die zuvor nur der Familie bekannt gewesen waren, für die Nachwelt zu digitalisieren. Statt der geplanten zwei Tage verlängerte das Team ins Wochenende, um die Nachfrage befriedigen zu können. Bisher konnten 230 000 Objekte aus 22 Ländern digitalisiert werden. Dies wurde unter anderem auch durch EU-Mittel finanziert.

Dieses Jahr liege der Fokus auf der Nachkriegszeit, gerechnet vom 8. Mai 1945 bis 1950. Das Projekt ist ortsunabhängig. Ausdrücklich teilnehmen könne auch, wer außerhalb Berlins lebe. Aber die Objekte müssten unmittelbar mit der Nachkriegszeit in Verbindung stehen, erläutert Siegmann. »Wir wollen nicht den Fokus auf die Kriegszeit und den Nationalsozialismus legen, sondern Dokumente aus der Zeit des Friedens sammeln.« Interessante Objekte wären zum Beispiel Tagebücher, Briefe, Kalender, Passierscheine, Kennkarten, Fotos, Bezugsscheine, Fahrkarten, Entlassungs- und Rückkehrbescheinigungen, Bewerbungsunterlagen, Wohnungszuweisungen, Kinderspielzeug oder auch Koffer.

Fahrten- und Soldbuch des Berliner Kraftfahrers Willi Krüger (1903–1980)
Fahrten- und Soldbuch des Berliner Kraftfahrers Willi Krüger (1903–1980)

Alle Interessierten können am 16. Mai vor Ort bei der Staatsbibliothek zu Berlin ihre Dokumente einscannen lassen. Das ist kostenlos und ohne Anmeldung möglich. Die Veranstaltung ist Teil der Berliner Themenwoche »80 Jahre Kriegsende – Befreiung Europas vom Nationalsozialismus«. Alternativ können bis zum 30. Juni Fotos dieser Dokumente auf der Webseite hochgeladen werden.

Begleitet wird die Digitalisierungskampagne von Workshops, die Interessierten das Transkribieren beibringen. Dazu gehört die Fähigkeit, nicht mehr gebräuchliche Schriften wie Sütterlin lesen zu können. Siegmann betont, dass das Projekt noch am Anfang stehe. Die langfristige Finanzierung etwa oder die konkrete Verwendung des digitalen Materials durch die Wissenschaft seien noch offen. Jetzt liege der Fokus erst einmal auf dem Sammeln und Transkribieren. »Wir machen die Grundarbeit. Wir graben den Garten um, um die Objekte so lebendig zu machen«, sagt Siegmann.

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