Die neuen Unübersichtlichkeiten

Thomas Seibert über den Machtkampf im und um das Mittelmeer

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 3 Min.

Am Mittelmeer standen die Wiegen von Kulturen und Religionen. Sein östlicher Teil ist das Scharnier zwischen drei Kontinenten: Europa, Asien und Afrika. Der in Istanbul ansässige Nahost-Experte Thomas Seibert beobachtet von seinem Logenplatz aus den aktuellen Machtkampf, in den nicht nur die Anrainer, sondern auch Großmächte verwickelt sind. Was in den Küstenländern passiert, findet im Meer seine Fortsetzung.

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Thomas Seibert: Machtkampf am Mittelmeer. Neue Kriege um Gas, Einfluss und Migration.
Ch. Links, 239 S., br., 18 €. •

Zwei »gescheiterte Länder«, der Libanon und Libyen, wecken Begehrlichkeiten; zwei Nato-Mitglieder, Griechenland und die Türkei, pflegen ihren seit den 1920er Jahren gewachsenen Erbkonflikt. Drei regionale Schwergewichte - Ägypten, Iran und die Türkei - streben nach Hegemonie im Mittelmeerraum. In Syrien und Libyen toben von Außenstehenden geschürte Bürgerkriege. Zwischen Israel sowie Palästinensern und dem Großteil der arabischen Welt herrscht ein kriegsähnlicher Dauerkonflikt. Hier sieht Seibert nach dem noch von US-Präsident Donald Trump eingefädelten Abkommen zwischen Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten allerdings eine grundlegende Wende zum Besseren für Israel und einen Rückschlag für die Palästinenser. Über das Mittelmeer führen seit der Eröffnung des Suezkanals wichtige Schiffsrouten und kreuzen die prekären Flüchtlingswege.

Dieses riesige schwelende Pulverfass beschreibt der Autor kenntnisreich im zeitgeschichtlichen Kontext. Er nimmt den schon vor Trump einsetzenden Rückzug der USA wie die unter Wladimir Putin erfolgte Rückmeldung Russlands wahr. Seibert beklagt die Zerstrittenheit und Perspektivlosigkeit der Europäischen Union. Er fordert angesichts der hilflos anmutenden Nahost-Politik der EU bzw. ihrer Mitgliedsländer eine einheitliche Außen- und Militärpolitik. Als negatives Beispiel nennt er unter anderem Frankreichs und Italiens widerstreitende nationale (Öl-)Interessen im Libyen-Konflikt.

Wie sich das alles auf die seerechtlichen Verhältnisse in dem wegen zahlreicher Inseln sehr engen östlichen Mittelmeer auswirkt, veranschaulichen zwei Karten. Die eine zeigt die beiden Mittelmeerrouten der nach Europa strömenden Flüchtlinge, die andere die Gebietsansprüche Griechenlands und der Türkei sowie die Grenzen eines libysch-türkischen und eines griechisch-ägyptischen Seerechtsabkommens. Alles überschneidet sich mehrfach, ist nicht kompatibel. Stetige Flottenmanöver der Kontrahenten weisen auf den Ernst der Lage. Auslöser unvereinbarer Begehrlichkeiten sind vermutete bzw. bereits entdeckte Erdgaslagerstätten unter dem Meeresboden. Solange Gas wie auch Öl die Weltwirtschaft treiben, sind friedliche Lösungen in den aufgeladenen nationalistischen Rivalitäten unwahrscheinlich.

Es bleibt bis auf Weiteres beim Machtkampf am und im Mittelmeer, in dem sich widersprüchliche Koalitionen bilden. An der Seite der Regierung in Tripolis stehen die Türkei, Russland und Italien, während Frankreich und die Vereinigten Arabischen Emirate die libyschen Aufständischen unterstützen. In Syrien greifen Russland und Iran Baschar al-Assad unter die Arme, die Türkei steht hier - auch weil es gegen die Kurden geht - auf der Gegenseite. Im Libanon ist alles noch verwirrender. Neben staatlicher Unübersichtlichkeit gibt es die religiösen Konflikte, vor allem die zwischen Schiiten (Iran) und Sunniten (Saudi Arabien). Deren terroristische Ableger wie Hisbollah oder Hamas, aber auch der weitgehend zurückgedrängte sogenannte Islamische Staat führen zum Teil auf eigene Faust Kriege, meist gegen Israel.

Mit gewisser Bewunderung blickt Thomas Seibert interessanterweise auf Russland: »Putin kann hier mit jedem reden.« Die USA hingegen hätten sich viel verscherzt und wollen mit »Middle East« nichts mehr zu tun haben. Europa hüllt sich zumeist in ohnmächtiges Schweigen. Ein alarmierendes Buch!

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