Schmerz und Langeweile

Wo bitte geht’s zum Abgrund, Wohlstandsbürgerinnen? Tina Uebels Zeitroman »Dann sind wir Helden«

  • Werner Jung
  • Lesedauer: 3 Min.

Am besten bezeichnet man es wohl als Zeitroman, Tina Uebels neues Buch »Dann sind wir Helden«, das unter Anspielung auf eine Zeile aus David Bowies berühmten Song »Heroes« (deutsche Version) einen Querschnitt durch die Befindlichkeiten bundesdeutscher Wohlstandsbürger*innen samt pubertierendem Nachwuchs bietet. Eine Welt, messerscharf beleuchtet, zwischen Schmerz und Langeweile, worin Mitte des 19. Jahrhunderts bereits ein unnachsichtiger Kritiker bürgerlicher Befindlichkeiten wie Arthur Schopenhauer die Existenzialien des Menschen gesehen hat: das Angekommensein in einem saturierten Alltag der Forty-somethings mit der zwangsläufigen Langeweile einerseits, das Verlangen nach dem großen Kick andererseits, Schmerz inklusive.

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Tina Uebel: Dann sind wir Helden.
C. H. Beck, 269 S., geb., 23 €. •

In lockerer Abfolge kurzer und noch kürzerer Kapitel lässt Uebel nacheinander, nebeneinander und durcheinander die alleinstehende Ruth auf einer Bergtour durch die Schweizer Alpen auftreten; dann die nur wenig jüngere Kathrin, Hausfrau und Dauerbetrogene, ebenfalls auf Kletterpartien; den erfahrenen Bergführer Jero, der nicht nur Touristen begleiten, sondern sich oft genug als Guru und Therapeut auch deren Frust anhören und aushalten muss; am Ende noch Simon, Kathrins Sohn, der als 17-Jähriger den Part des anhalt- und orientierungslos Getriebenen gibt und von Hannover nach Hamburg gereist ist, um hier in den Straßenschlachten um besetzte Häuser seinen ultimativen Thrill zu erleben.

Im Arrangement dieses Figurenensembles gelingt es Uebel, ebenso die Welt des schönen Scheins - glitzernde Benutzeroberflächen im Netz (so arbeitet etwa Kathrin als Influencerin und Videobloggerin) - wie eines hässlich-gefährlichen Seins auf großstädtischem Asphalt zu zeichnen. Dahinter die Motivationsfaktoren Lug und Betrug, was vor allem den Protagonistinnen unvermittelt in ihre krude Gedankenwelt hineinblitzt, wenn sie zum Beispiel ihre Beziehungen Revue passieren lassen: »Ich kann das nicht glauben, haucht Gattin, einmal, einmal kommst du mit dahin, wo es mir was bedeutet, und dann steckst du am zweiten Abend in der Möse der nächstbesten, der einzigen Schlampe.«

Kein Wunder bei dieser Tristesse pur, dass sich die Held*innen nach Möglichkeiten des Ausbruchs sehnen, nach dem ganz anderen, das sie in der Gefahr und Einsamkeit bedrohlicher alpiner Landschaften suchen oder - wie Simon - im Ein- und Abtauchen in eine metropolitane (Gegen-)Kultur. Und manchmal ist es nur ein winziger Schritt zum Abgrund, dem Ende von allem: »sie singt sich immer noch die Bittersweet Symphony, als der Abgrund sie bemerkt, zurückblickt, als die fragile Restwelt aus Altfirn und Neuschnee plötzlich aufhört, ihrem Innenohr glaubwürdige Signale zu senden, und Ruth zu einem spontanen Date mit ihm, dem Abgrund, einlädt, was Ruth eine Millimississippisekunde lang für eine reizvolle Idee hält, bevor alles an und in ihr, zu spät, Nein schreit. Da aber ist sie längst unterwegs zu dem Ort, where all the veins meet, yeah.«

So witzig, komisch und grotesk zuweilen der Sound, so faszinierend auch die Bergschilderungen in Uebels Roman erscheinen, so trostlos und deprimierend wirkt dann wieder die Hohlheit ihrer Protagonisten. Ja, so ist es wohl in dieser Brave New World, in der Motivationsbooster und Videoblogger sich die Klinke in die Hand geben, wo zwischen Wirklichkeit und Lüge, zwischen Fake News, Verschwörungstheorien und vermeintlichen Wahrheiten kein Mensch sich mehr zu orientieren versteht.

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