Entschädigung für Menschenversuche

Heimkinder mussten lange Zeit Medikamententests über sich ergehen lassen. Nun bemüht sich der Kieler Landtag um Aufarbeitung

  • Dieter Hanisch, Lübeck
  • Lesedauer: 4 Min.

In Schleswig-Holstein sind zwischen 1949 und 1975 systematisch Medikamententests an Heimkindern und Kindern aus Jugendpsychiatrien vorgenommen worden, ohne dass sich die herausgepickten Probanden dagegen wehren konnten. Eine Studie dazu liegt jetzt dem Kieler Landtag zur weiteren Bewertung vor. Vor wenigen Jahren haben damals Betroffene das Thema öffentlich gemacht, was lange mit einem Tabu behaftet war. Die rund 230-seitige Expertise des Instituts für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung an der Universität Lübeck hat eine flächendeckende Praxis solcher Versuche offen gelegt, sowohl in Einrichtungen von öffentlichen wie von privaten Trägern. Von ethischem Unrechtsbewusstsein war damals nichts zu spüren. Strafrechtlich haben Verantwortliche nichts zu befürchten. Die heute Körperverletzungen gleichenden Taten, sofern sie unter früherer Gesetzeslage überhaupt zu belangen waren, sind längst verjährt.

Studienleiter Cornelius Borck hält fest, dass landesweit etwa 3000 Betroffene regelmäßig mit Arzneimitteln behandelt und ruhiggestellt wurden, welche weder getestet noch zugelassen waren. Die Folgen waren gravierend, wie Borck aus damaligen Patientenakten entnehmen konnte, in denen Ärzte ihren Versuchsfeldzug dokumentierten. So heißt es zu den in Kauf genommenen Nebenwirkungen in einem Fall aus den Ricklinger Anstalten, die noch immer unter kirchlicher Trägerschaft stehen: »Patientin schluckt nicht mehr richtig und hat Speichelfluß - Dosis herabgesetzt.« Bei anderen wird notiert, dass es zu Sehstörungen, Schmerzen im Bein oder erbrochenen Mahlzeiten gekommen sei. Bei anderen Versuchen im Landeskrankenhaus Schleswig wurden Muskelkrämpfe, Kreislaufzusammenbrüche oder Atemstillstand der Teenager in Kauf genommen. Das hat bei vielen zu traumatischen Folgen geführt, die bis heute anhalten.

Das Studium zahlreicher Schriftstücke und Quellen brachte insgesamt 75 Testreihen ans Tageslicht. Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen. Die Borck-Untersuchung belegt jedenfalls, dass diese Experimente nicht nur in der alleinigen Verantwortung zwischen Medizinern und Pharmaindustrie lagen, sondern dass entsprechende Informationen auch schon früh die damaligen CDU-geführten Landesregierungen in Schleswig-Holstein erreichten, in denen bis 1971 die Innenminister auch jeweils das Gesundheitsressort leiteten. Dort stieß die gängige Praxis mit den wehrlosen »Versuchskaninchen« auf keinerlei Widerstand, im Gegenteil.

Weil die Kliniketats psychiatrischer Einrichtungen durchweg niedrig waren, zeigte man sich offen und geradezu dankbar für die Überlassung von kostenlosen Testmargen als sogenannte »Ärztemuster«, egal ob es nun zu erprobende Präparate wie Antidepressiva, Antiepileptika, Beruhigungsmittel oder Psychopharmaka waren. Diese kamen von den Arzneimittelherstellern wie dem Bayer-Konzern und mündeten in Anwendungsversuchen, für die nirgends ein Einverständnis eingeholt wurde. Manche Ärzte oder Einrichtung bekamen für ihr Mitwirken sogar noch ein Extrahonorar. Bei den Recherchen zu ihrer Studie entdeckten die Lübecker Medizinwissenschaftler, dass der Pharma-Riese beispielsweise im Oktober 1968 an Erprobungen beteiligte Ärzte zwecks gegenseitigen Austauschs zu einer Dampferfahrt auf dem Rhein eingeladen hatte.

Einer der damals Betroffenen ist Günter Wulf (Jahrgang 1959) aus dem Kreis Schleswig-Flensburg, der sein schlimmes Heimschicksal 2019 in einer Anhörung des schleswig-holsteinischen Landtages vor sichtbar schockierten Abgeordneten schilderte und ein Jahr später seine Kindheitserlebnisse in dem Buch »Sechs Jahre im Haus F« veröffentlichte. Seinen Zustand nach Verabreichung ihm unbekannter Substanzen schilderte er mit: »Ich konnte nur noch lallen.« Heute spricht er von Menschenrechtsverletzungen.

Nach einer Entschuldigung durch Gesundheitsminister Heiner Garg (FDP) für das erlittene Unrecht hat es bisher für die damals Gepeinigten pro Kopf eine einmalige Wiedergutmachung in Höhe von 9000 Euro gegeben. Wulf hält das für nicht ausreichend, fühlt sich billig abgespeist. Er plädiert für eine dauerhafte Rentenzahlung, eine Art Opferrente. Günther Jesumann, unabhängiger Beauftragter für diesen Opfer-Personenkreis, schließt sich dieser Forderung an.

Minister Garg sieht zumindest eine moralische Mitverantwortung für die unsäglichen Versuche bei den involvierten Pharmafirmen, die bisher aber nicht bereit waren, sich an Entschädigungen zu beteiligen. Einige Betriebe sperrten sich auch bei Anfragen, Einsicht in ihre Firmenarchive zu nehmen. Schleswig-Holstein stellt bis 2030 in einem Unterstützungsfonds 6,2 Millionen Euro bereit, so ein interfraktioneller Vorstoß im Landtag. Die vorgelegte Studie ist im nächsten Monat zum zweiten Mal Thema im Landtags-Sozialausschuss.

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