Viva la Defa (3): »Das zweite Gleis«

  • jha
  • Lesedauer: 3 Min.

»Das zweite Gleis« gehört nicht zu den bekanntesten, wohl aber zu den außergewöhnlichsten Defa-Filmen. Er zeigt »in der auf wenige Personen konzentrierten Fabel einen Gegenwartskonflikt, dessen Lösung persönlichen Mut erfordert«, urteilte der Kritiker des »Neues Deutschland« anlässlich der Uraufführung im Jahre 1962. Das ist noch recht allgemein formuliert, der Film greift das Problem präziser. Der Protagonist Walter hat nach 1945 eine neue Identität angenommen. Warum das so ist, weiß das Publikum nicht und begibt sich so mit der ebenfalls unwissenden Tochter auf Nachforschungen - zusammen mit dem halbseiden Lederjacken-Frank und seinem schicken Motorrad. Vera ist aus feinerem Stoff, sie hat eine Passion für klassische Musik und einen Beruf als technische Zeichnerin. Sie erfährt, dass ihre Mutter nicht wie geglaubt bei einem Bombenangriff ums Leben kam, sondern von den Nazis umgebracht wurde. Ihr Vater hat das verschwiegen, weil er unabsichtlich verraten hat, dass sie einen Juden auf der Flucht versteckt hatte. Eines Tages aber trifft er den Nazi-Nachbarn von damals auf dem Bahngelände wieder - der gesamte Film spielt im Eisenbahnermilieu, eine Einstellung zu Beginn deutet schon die Güterzüge in die KZs an.

Verbrechen, Mitschuld, Feigheit, Anpassung und Scham sind die Themen des Films, die Joachim Kunert als Regisseur und Günther Kunert als Drehbuchautor in Szene setzen. Die Bilder sind in kräftigen Hell-Dunkel-Kontrasten gehalten, Rolf Sohre wählte für die Kamera Einstellungen, die an den expressionistischen Film der Weimarer Republik erinnern und zugleich auch dokumentarischen Charme haben. Oberleitungen und Drahtzäune evozieren den Eindruck des Verstricktseins, die harten Stahlsaiten der Harfe - Komposition Pavel Simai - verstärken das noch. Selten sieht man eine derart geglückte Übersetzung von Psychologie in Handlung, Bild und Ton. In jedem Moment dringt der Film auf die Bewusstwerdung eigener Verstrickung.

Das moralische Versagen ist hier ein doppeltes, nicht nur zur Zeit der Naziherrschaft, sondern auch in Bezug auf deren Aufarbeitung. Nach dem Muster der Tragödie lehrt »Das zweite Gleis«, dass die Konfrontation unvermeidbar ist. Walter, der sie nach allen Mitteln zu vermeiden sucht, macht sich abermals zum Mitschuldigen, das Unglück, dem er ausweichen wollte, führt er herbei. Und natürlich hat das etwas mit Weichenstellungen zu tun, dem unvermeidlich Wirkenden, wenn der Zug der Geschichte einmal auf dem falschen Gleis gelandet ist. Helfen tut dann nur noch die Vollbremsung, vor der Walter wie viele andere zurückschreckt. »Das zweite Gleis« ist für den deutschen Nachkriegsfilm auch deswegen so außergewöhnlich, weil Mitschuld an und Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen hier auf der Ebene des Alltäglichen verhandelt werden. In der Konsequenz wird mehr gefordert, als nur Anpassung an neue Zeitumstände. Der Film zielt auf eine selbstbewusste Auseinandersetzung mit dem Nazifaschismus im Sozialismus. jha

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