Abgeriegelte Täler, geöffnete Großstädte

Österreich versucht seit Monaten eine Strategie mit Lockerungen bei flächendeckendem Testen. Steigende Infektionszahlen sorgen für Nervosität

  • Stefan Schocher, Wien
  • Lesedauer: 4 Min.

Kaum ein Tag, an dem die österreichische Regierung nicht vor die Medien tritt. Und kaum eine Gelegenheit, bei der Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) dabei nicht auf ein Thema hinweist: das Testen. Denn eines lässt sich sagen nach gut vier Monaten Lockdown in Abstufungen: Das Testen funktioniert. Ob es wirkt, ist eine andere Frage.

Österreich hat sich in puncto Pandemie-Bekämpfung in ein Experiment begeben, für das es Rechenmodelle, allerdings kaum praktisch Erfahrungen gibt. Und eines, bei dem nicht so ganz klar ist, ob dieser Weg bewusst eingeschlagen wurde oder einfach die Folge politischer Praxis ist. Handel, körpernahe Dienstleistungen, Schulen sind jedenfalls offen. Begleitet wird das von umfassenden Tests. In Grundschulen etwa werden Kinder drei Mal pro Woche getestet. Für die Inanspruchnahme von körpernahen Dienstleistungen braucht es einen negativen Covid-Test. Das Netz an Teststraßen, Testboxen, mobilen Testbussen oder Testmöglichkeiten in Apotheken ist mittlerweile lückenlos. Der Zugang ist unkompliziert. Täglich werden inzwischen mehr als 200 000 Abstriche gemacht - in einem Land mit gerade mal neun Millionen Einwohnern.

Zugleich gelten lokale Maßnahmen: Erst diese Woche wurde für den Osten des Landes (Wien, Niederösterreich und Burgenland) ein kurzer Lockdown über Ostern beschlossen. Einzelne Täler, aber auch Ballungsräume wie die 50 Kilometer südlich der Hauptstadt gelegene Wiener Neustadt (50 000 Einwohner) wurden in den vergangenen Wochen wegen hoher Inzidenzen von über 400 abgeriegelt. Das Verlassen solcher Regionen ist nur mit negativem Test erlaubt. In der »Testregion« Vorarlberg wurde dagegen großräumiger als im Rest des Landes geöffnet: Da ist etwa auch die Gastronomie unter Auflagen offen, Kulturveranstaltungen sind erlaubt. In Vorarlberg liegt die Inzidenz bei 81 und damit unter dem landesweiten Durchschnitt.

Die seit Mitte Februar wieder steigenden Infektionszahlen ließen im Gesundheitsministerium zuletzt wieder Nervosität und unter Experten Zweifel an dem eingeschlagenen Kurs aufkommen: Die 7-Tage-Inzidenz liegt landesweit bei 247, in Ostösterreich mit dem Ballungsraum Wien sogar um die 300. Die Auslastung der Intensivbetten in Wien liegt über der kritischen November-Marke am Höhepunkt der zweiten Welle. Am vergangenen Dienstag twitterte der Ärztliche Direktor der Wiener Privatklinik, Christoph Zielinski, sonst ein besonnen auftretender Mann, dazu: »Macht, was ihr wollt. Rette sich, wer kann. Völliges Versagen.«

Dass der Kanzler so gerne die Teststrategie vor den Vorhang holt, hat also gute Gründe: Abseits davon bietet die Pandemie-Bekämpfung aktuell kaum Glanz und Gloria. Die Umsetzung von Maßnahmen in Koordination mit den Ländern gestaltet sich zäh, die Zahlen steigen, das Impfen ist ein Jammertal (die Rate liegt bei knapp fünf Prozent). Und während der Kanzler in dieser Sache die EU attackiert und von einem Impfstoff-Basar spricht, in dem Österreich betrogen worden sei, wirkt eher das Ringen zwischen Bund und Regionen um Maßnahmen wie das Feilschen um Fleischpreise am Wochenmarkt.

Das Maßnahmenpendel in Österreichs Föderalismus tendiert trotzdem in eine Richtung: Lockerungen. Das unpopuläre Corona-Management wurde zu einem beträchtlichen Teil den Regionen überlassen - und die wollen dafür nun gestreichelt werden. Die Landeshauptleute sind aktuell jedenfalls die stärkste Lobby für Lockerungen. Und so konnten sich Bund und Länder im Zuge langer Gespräche zu Wochenbeginn auch lediglich darauf einigen, sich auf nichts zu einigen - trotz steigender Zahlen. Und das, obwohl Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) im Chor mit Experten zuvor massiv dafür geworben hatte, die »Notbremse« zu ziehen.

Gescheitert ist Anschober damit auch am Koalitionspartner. Denn Kurz hatte sich zuletzt vor allem mit der Suche nach Schuldigen hervorgetan, selbst aber wenig Realpolitisches beigetragen. Stattdessen wurden wechselweise Länder, EU oder Anschober vom Kanzler gemaßregelt. Was die Beschaffung von Impfstoff angeht, schob Kurz dem Gesundheitsministerium die Schuld für angebliche Fehler zu. Als der konservative Politiker dann aber meinte, die Verträge dazu nicht zu kennen, in den Prozess nicht involviert gewesen zu sein, und dann auch noch einen Beamten zum Bauernopfer machte, kommentierte der Politologe Peter Filzmaier das mit der rhetorischen Frage: »Was hat der Kanzler in diesem Jahr bisher eigentlich beruflich gemacht?«

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