Reifenabrieb tötet Fische

Um den Anteil an Schadstoffen aus dem Straßenverkehr zu verringern, braucht es technische und politische Lösungen

  • Susanne Aigner
  • Lesedauer: 4 Min.

Jedes Jahr im Herbst wandern Silberlachse (Oncorhynchus kisutch) aus dem Pazifik in die Flüsse Nordamerikas, wo sie ihre Eier im Kiesbett der Flüsse ablegen und sie besamen, um danach zu sterben. Doch neuerdings verenden in Regionen mit viel Straßenverkehr bis zu 90 Prozent der Silberlachse, noch bevor sie Nachwuchs gezeugt haben. Zu diesem Ergebnis kamen Wissenschaftler um Zhenyu Tian und Edward Kolodziej von der University of Washington für den Bundesstaat im Nordwesten der USA. Die Forscher kamen der Ursache auf die Spur, als sie das Regenwasser, das von den Straßen in Seattle in Flüsse und Seen geschwemmt worden war, untersuchten. Sie fanden darin Oxidationsprodukte eines Zusatzes in Reifengummi.

Diese kurz 6PPD genannte Substanz N-(1,3-Dimethylbutyl)-N′-phenyl-p-phenylendiamin (6PPD) wird dem Gummi von Autoreifen beigemischt, um diese vor Versprödung durch bodennahes Ozon zu schützen. Der giftige Zusatzstoff schützt also die Reifen vor einem anderen Gift aus dem Auto. Denn das Ozon entsteht selbst durch die Stickoxide aus den Auspuffrohren. Wenn das aggressive Ozon mit dem Reifengummi reagiert, wird dieser schneller spröde. Um das zu verhindern, mischen Hersteller weltweit 0,4 bis 2 Prozent 6PPD in den Gummi. Reagiert 6PPD mit Ozon, entsteht das ebenfalls giftige 6PPD-Chinon. Die Forscher von der University of Washington konnten nachweisen, dass die Konzentration von 6PPD-Chinon im Flusswasser nach heftigen Regenfällen besonders hoch ist. Zeitgleich setzte ein Massensterben der Silberlachse ein. Zu anderen Zeiten war die Substanz nicht nachweisbar.

Für die im Fachjournal »Science« veröffentlichte Studie (DOI: 10.1126/SCIENCE.ABD6951) hatten die Wissenschaftler mittels Chromatographie stadtnahe Fließgewässern auf toxische Teilchen untersucht. Dabei isolierten sie ein Molekül, das bei Konzentrationen von etwa einem Mikrogramm pro Liter akut toxisch ist. Weniger als ein Milligramm pro tausend Liter Wasser tötet bereits die Hälfte aller jungen Lachse. In einem weiteren Experiment, in dem die Forscher 6PPD-Chinon auf Fische einwirken ließen, veränderte sich das Verhalten der Lachse bereits nach 90 Minuten. Fünf Stunden später waren die Fische tot. Ähnliche Auswirkungen waren zu beobachten, als sie den Abrieb von Autoreifen mit Wasser vermischten.

Der Ökotoxikologe Jörg Oehlmann, der an der Goethe-Universität in Frankfurt die Wirkung von Umweltchemikalien in Bächen, Flüssen und Seen untersucht, sieht in der Studie einen Nachweis dafür, dass sich 6PPD auf die Silberlachse auswirkt. Zum einen ist es selbst fischgiftig, zum anderen werde es zu Phenylendiamin und Benzotriazol abgebaut. Benzotriazol kann bei Wirbeltieren die Rezeptoren für das Sexualhormon Östrogen blockieren. Wird es in die Gewässer gespült, kann es Fischweibchen unfruchtbar machen.

Feinstaub, der durch Abnutzung von Bremsen, Kupplungen, Reifen und Straßenoberflächen im Straßenverkehr entsteht, wird von Experten als nicht abgaspartikuläre Emissionen bezeichnet. Weltweit ist der Stadtverkehr etwa für ein Viertel solcher Partikelemissionen verantwortlich. Während die bei Abgaspartikeln aus Kraftfahrzeugen immer strenger geregelt werden, bleibt der Anteil von Partikeln aus Abrieb aller Art weitgehend unbeachtet. Darum nimmt ihr Anteil an den Gesamtemissionen im Straßenverkehr tendenziell zu, heißt es in einem OECD-Bericht, der Anfang Dezember 2020 veröffentlicht wurde. So werden sich die Feinstaubemissionen mit wachsendem Autoverkehr bis 2050 mehr als verdoppelt haben.

Wie hoch die Emissionen aus Abrieb sind, hängt vor allem vom Fahrzeuggewicht und dem Material von Bremsen, Reifen und Straßenoberflächen ab. Zudem ist die Abnutzung von Bremsen, Reifen und Kupplung in Gegenden mit hohem Verkehrsaufkommen besonders hoch. Je schwerer die Autos, umso stärker der Reifenabrieb, umso mehr giftige Partikel lösen sich ab. Das gilt nicht nur für Lkw und schwere SUV, sondern auch für Elektrofahrzeuge. Denn die sind wegen ihrer Batterien typischerweise schwerer sind als gleichgroße Autos mit Verbrennungsmotoren.

Wie epidemiologische Studien zeigen, können Feinstaubemissionen auch die menschliche Gesundheit erheblich schädigen. So lösen Metalle und organische Verbindungen oxidativen Stress aus und verursachen Herz-Kreislauf- und Atemwegserkrankungen. Mit zunehmender Luftverschmutzung erhöht sich das Infektionsrisiko für Virenkrankheiten und somit auch das Sterberisiko. Am meisten davon betroffen ist die Bevölkerung in verkehrsreichen Städten.

Trotz allem sind Emissionen durch Abrieb von Reifen und Bremsbelägen immer noch zu wenig im öffentlichen Bewusstsein. Hier braucht es bessere gesetzliche Regelungen: Reifen, die schnell Material verlieren, müssen gegenüber Reifen mit längerer Haltbarkeit verteuert werden. Ähnlich beim Autokauf: Kleinere und leichtere Fahrzeuge sollten preiswerter sein als große und schwere. So sparen Konsumenten nicht nur Geld, sondern erweisen auch der Umwelt einen Dienst. Auch in der Technik gibt es noch Spielraum: Zum Beispiel verringert sich bei regenerativen Bremssystemen der Verschleiß.

Ein anderer Ansatz liegt im Fahrstil: So nimmt der Verschleiß mit erhöhter Geschwindigkeit zu. Bei einem Tempo von 180 km/h steigt der Abrieb gegenüber 100 km/h auf das Neunfache. Wer eine Kurve mit 80 km/h durchfährt statt mit 50 km/h, erhöht den Abrieb um das 6,5-fache. Ein Kavalierstart mit quietschenden Reifen kann den 100 bis 200-fachen Abrieb erzeugen. Besonders hoch ist der Abrieb auch bei einer Vollbremsung. Auch gilt: Je breiter der Reifen, desto stärker die Abnutzung. Und ist der Luftdruck zu niedrig, werden die Reifen stärker durchgewalkt, nehmen Rollwiderstand und Reibung zu, lösen sich Gummimischungen schneller ab.

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